Marko Pajević
Mehrsprachigkeit und das Politische
Interferenzen in zeitgenössischer deutschsprachiger und baltischer Literatur
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Der Druck des Bandes erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für deutsche Sprache und Literatur und für Interkulturalität der Universität Luxemburg sowie der Universität Tartu. Die dem Band zugrundeliegende Forschung wurde unterstützt vom Baltisch-Deutschen Hochschulkontor sowie dem Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung.
ISSN 2627-9010
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ISBN 978-3-7720-8712-7 (Print)
ISBN 978-3-7720-0140-6 (ePub)
InterferenzenInterferenz. Einführung
Marko Pajević
Interferenz ist ein Begriff aus der Physik und bezeichnet die Änderung der Amplitude bei der Überlagerung von Wellen. Die verschiedenen Wellen durchdringen einander und ihre Ausschwingungen treten miteinander in Beziehung und verstärken einander beziehungsweise gleichen einander aus. Es ist ein Phänomen des Zwischen, inter, und der Gegenseitigkeit bei einem Zusammentreffen.
Sprache besteht aus Schallwellen und jedes Sprechen hat seinen eigenen Sprachfluss. Allerdings sollten wir uns dabei nicht die regelmäßig an den Strand schlagenden Wellen eines Meeres vorstellen, sondern eher das Fließen eines Flusses, also eine sich unablässig ändernde Form in Bewegung. Émile BenvenisteBenveniste, Émile hat auf diese vorplatonische Bedeutung des Wortes RhythmusRhythmus/rhythm hingewiesen (Benveniste 1966) und Henri MeschonnicMeschonnic, Henri hat dies zur Grundlage seiner Rhythmustheorie gemacht (Meschonnic 1982), die nicht nur für die Sprach- und Literaturtheorie von großer Bedeutung ist, sondern sich als PoetikPoetik/poetics der Gesellschaft versteht, also unsere SprachstrukturenSprachstrukturen mit unseren Denkstrukturen gleichsetzt und somit auf unsere Vorstellungen von Welt schließen lässt.
Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm von nannte Sprachen „WeltansichtenWeltansicht“ (Humboldt IV:27). Die Sprache, die wir sprechen, gibt uns die Perspektive auf die Welt. Sprache bestimmt unsere Beziehungen zur Welt und zu uns selbst. Dabei dürfen wir uns die NationalsprachenNationNationalsprache nicht als Gedankengefängnisse denken, wir können durchaus individuell über die Sprachkonvention Sprachkonvention hinausdenken und tun dies im jeweiligen Sprechen immerzu (TrabantTrabant, Jürgen 2003: 277). Im Prinzip hat jedes Individuum eine individuelle Sprache, geprägt durch die individuellen Erfahrungen und Assoziationen. Laut Humboldt gibt es letztlich genauso viele WeltansichtenWeltansicht wie es Individuen gibt. Bis zu einem gewissen Grad jedoch ist unser Denken, das für Humboldt mit unserer Sprache gleichzusetzen ist, durch die jeweilige NationalspracheNationNationalsprache mitgeprägt.
MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit greift dementsprechend selbstverständlich in diese Weltvorstellungsprozesse ein und lässt die WeltansichtenWeltansicht überlappen, dabei kommt es zu InterferenzenInterferenz. Verschiedene WeltansichtenWeltansicht kommen miteinander ins Schwingen und beeinflussen einander, neue Schwingungen entstehen. Sprachliche InterferenzenInterferenz wirken kreativ. Anders als in der Physik, in der es lediglich eine Verstärkung oder eine Auslöschung der Amplitude gibt, entstehen bei sprachlichen InterferenzenInterferenz unzählige kleine Schwingungsveränderungen, die jeweils die Perspektive auf die Dinge verschieben und erweitern. Eine erweiterte Perspektive auf die Welt aber ist eine größere Welt, ganz im Sinne von Ludwig WittgensteinsWittgenstein, Ludwig berühmtem Satz: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1963: Satz 5.6) Mehrsprachigkeit ist eine Entgrenzung, eine Möglichkeit, neue Sichtweisen einzunehmen.
MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, es sei an dieser Stelle erneut betont, ist keineswegs die Ausnahme, sondern weltweit eher der Normalfall. Es gibt keinen Ort ohne Vermischung von Kulturen und Sprachen – und das auf verschiedensten Ebenen. Jede Sprache ist in sich mehrsprachigMehrsprachigkeitmehrsprachig und hat sich im Austausch mit diversen anderen Sprachen entwickelt. Immer und überall haben Menschen verschiedener Kulturen und Sprachen zusammengelebt oder Handel miteinander getrieben. Auch der geistige Austausch hat seit Urzeiten stattgefunden und ist geradezu die Grundlage aller kulturellen Entwicklung. Nicht umsonst wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die Sprache EuropasEuropa (und nicht nur EuropasEuropa) die ÜbersetzungÜbersetzung/translation ist.1 Die grundlegenden Texte unserer Zivilisation sind ÜbersetzungenÜbersetzung/translation,2 in EuropasEuropa Fall die Bibel und die griechischenGriechischgriechisch Philosophen, die nahezu von keinem Europäer im Original rezipiert werden.
Die Vorstellung von EinsprachigkeitEinsprachigkeit ist dementsprechend ein Konstrukt, das an den Realitäten unserer SprachkonstitutionSprachkonstitution vorbeigeht. Und selbst wenn wir Sprache auf der einfachsten Ebene als DeutschDeutschlandDeutsch, EnglischEnglisch/English, LitauischLitauenLitauisch usw. verstehen, gibt es weltweit weitaus mehr Sprechende von mehreren solchen Sprachen als wirklich Einsprachige.
InterferenzenInterferenz zwischen und innerhalb der Sprachen sind also allgegenwärtig und sie prägen das Miteinander der Menschen. Insofern das PolitischePolitik/politicsPolitische, das die Organisation der gesellschaftlichen Beziehungen ist und unsere Sprache als unsere WeltansichtWeltansicht unsere Beziehungen prägt, ist Sprache nicht vom PolitischenPolitik/politicsPolitische, das zu trennen und das PolitischePolitik/politicsPolitische, das ohne das Sprachliche undenkbar – ganz abgesehen davon, dass Begriffe immer sprachlich sind und man dementsprechend immer in Sprache denkt.
Der vorliegende Band möchte aus der Perspektive literarischer MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit Licht auf dieses Wechselverhältnis zwischen PolitischemPolitik/politicsPolitische, das und Sprache werfen. Wie wirkt sich Mehrsprachigkeit auf das Leben in Gemeinschaft aus? Der Blickwinkel ist dabei in erster Linie die ExophonieExophonie, also Literatur, die in einer ZweitspracheZweitsprache geschrieben wurde und diesen sprachlichen Umstand in irgendeiner Weise thematisiert (vgl. Arndt/Naguschewski/Stockhammer 2007 sowie Ivanovic 2017: 172). ExophoneExophonieexophon/exophonic Literatur ist ein privilegiertes Feld für das Verständnis der mehrsprachigenMehrsprachigkeitmehrsprachig Prozesse, da SchriftstellerInnen allgemein einen bewussteren Umgang mit Sprache haben müssen und dementsprechend ihre sprachliche Situation der Exophonie reflektieren. Natürlich sind ihre vertieften und intimen Kenntnisse von mindestens zwei Kulturen auch von politischemPolitik/politicspolitisch/political Interesse, aber es soll hier nicht nur um die Schilderung politischerPolitik/politicspolitisch/political Hintergründe und Situationen gehen oder um daraus erfolgendes politischesPolitik/politicspolitisch/political Verständnis und Engagement. Vielmehr interessiert hier das PolitischePolitik/politicsPolitische, das des Literarischen selbst, also die Frage, inwiefern der politischePolitik/politicspolitisch/political Raum durch sprachliche Phänomene geformt wird, durch die Erzeugung von WeltansichtenWeltansicht.
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