Wenn wir über Politik nachdenken, verwenden wir meist totalisierende Kategorien (Volk, Gemeinwille, Volkssouveränität), mystifizierende Narrative (Gesellschaftsvertrag, deliberative Demokratie) oder abstrakte Begriffe (der Gesetzgeber, der politische Körper, der Bürger). Obwohl wir ihre fiktive Natur erkennen, halten wir sie für notwendig. Aber warum sollte politisches Denken auf Fiktionen beruhen? Und was passiert, sobald wir mit diesen Denkweisen brechen und die Realität so betrachten, wie sie ist?
Lagasnerie plädiert dafür, eine realistische Konzeption des Staates, des Rechts und unserer Erfahrung als Subjekte zu entwickeln. Dabei skizziert er eine „reduktionistische“ Theorie, die zur Aufhebung der Gegensätze führt, die die ganze Geschichte der politischen Philosophie strukturieren: Demokratie und Kolonie, legitime und illegitime Gewalt, Rechtsstaatlichkeit und Willkür, politisches Verbrechen und gewöhnliche Kriminalität. Ein Werk, das den Rahmen der politischen Theorie tiefgreifend erneuert.
Geoffroy de Lagasnerie ist Philosoph und Soziologe. Er unterrichtet am Pariser Institut für politische Studien.
Geoffroy de Lagasnerie
Das politische Bewusstsein
Aus dem Französischen von
Richard Steurer-Boulard
Passagen forum
herausgegeben von
Peter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: La conscience politique
Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-7092-5048-8
ISBN 978-3-7092-0473-3
© 2019 by Fayard
© der dt. Ausgabe 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Vorwort Vorwort Dieses Buch ist in zwei Abschnitte geteilt, die relativ unabhängig voneinander gelesen werden können. In den methodologischen Teilen I und II wird versucht, die Grundlagen für eine realistische (reduktionistische) Theorie der Politik zu legen, die die mythologischen Formen des traditionellen politischen Denkens in Frage stellt und mit ihnen bricht. Im zweiten Abschnitt wird versucht, eine Beschreibung unserer politischen Lage zu liefern, und zwar durch eine Theorie des Gesetzes und des Staats ( Teil III ), unserer Erfahrung als Subjekt ( Teil IV ), des Rechts, der Demokratie und der Gewalt ( Teile V und VI ).
I. Der politische Diskurs I. Der politische Diskurs
1. Eine Verzerrungslogik
2. Hobbes, die Wissenschaft, der Mythos
3. Dem entkommen, was ist
4. Eine Kritik des Bewusstseins
II. Die Reduktion der Politik auf das, was sie ist
1. Die Autonomie der Politik
2. Vom Monismus zum Reduktionismus
3. Die Politik als leerer Signifikant
4. Wenn eine Gruppe „Wir, das Volk“ sagt
5. Von der Performativität zur Fiktion
III. Der Staat und das Recht als Wille
1. Entscheiden
2. Gezieltes Auswählen
IV. Die politische Szene
1. Konfrontation
2. Vor dem Gesetz
3. Eine Theorie der kolonialen Macht
4. Der Konflikt der Souveränitäten
5. Besetzte Gebiete
V. Die Frage der Demokratie und des Rechts
1. Jenseits der Demokratie
2. Das Recht konkret denken
VI. Bis wohin? Die Frage der Gewalt
1. Die Stirn bieten
2. Politik ohne Legitimität
3. Die Nicht-Stichhaltigkeit der Gewaltlosigkeit
4. Mittel
Anmerkungen
Für D., natürlich
Dieses Buch ist in zwei Abschnitte geteilt, die relativ unabhängig voneinander gelesen werden können. In den methodologischen Teilen Iund IIwird versucht, die Grundlagen für eine realistische (reduktionistische) Theorie der Politik zu legen, die die mythologischen Formen des traditionellen politischen Denkens in Frage stellt und mit ihnen bricht. Im zweiten Abschnitt wird versucht, eine Beschreibung unserer politischen Lage zu liefern, und zwar durch eine Theorie des Gesetzes und des Staats ( Teil III), unserer Erfahrung als Subjekt ( Teil IV), des Rechts, der Demokratie und der Gewalt ( Teile Vund VI).
I. Der politische Diskurs
In gewisser Weise hat alles, was ich hier schreibe oder gerne schreiben würde, seinen Ursprung in dem Unbehagen, das ich immer dann verspüre, wenn wir von Politik sprechen. Ich habe ständig den Eindruck, dass etwas nicht stimmt an unseren Diskursen über den Staat, das Gesetz oder über uns selbst als Subjekt. Ob es sich nun um die Texte klassischer oder zeitgenössischer Autoren handelt, um deutsche, französische oder angelsächsische Theoretiker, um Stellungnahmen von Aktivisten oder Berufspolitikern, um konservative Sprecher, um solche, die radikaler eingestellt sind – die verwendeten Wörter, die gebrauchten Begriffe, die vorgeschlagenen Erzählungen erscheinen mir falsch zu sein, und mehr noch als das: offensichtlich falsch, so als ob wir die Politik nur zum Gegenstand machen könnten, indem wir uns Geschichten erzählen, im Grunde unseres Herzens wissend, dass wir dabei sind, uns selbst zu belügen.
Es ist schwierig, die Gründe für ein undeutliches Gefühl ohne Weiteres auf nicht restriktive und nicht einschränkende Weise darzulegen. Denn obwohl die Politik der Ort des Protests, des Einfallsreichtums und des Experimentierens sein soll, lässt sich kaum die Homogenität unserer politischen Sprache übersehen! Sobald wir uns über die Polizei oder die Justiz, über Wahlen oder Demonstrationen, über den Staat oder das Gesetz äußern oder uns darüber Gedanken machen, drängen sich uns die immer gleichen Rede- und Wahrnehmungsweisen auf. Eine geringe Anzahl von Begriffen kehrt ständig wieder – so als ob (was bereits ein beunruhigendes Phänomen darstellt) ein Dutzend Begriffe ausreichen würde, um das Wesentliche unseres Lebens zu erfassen: Volk, Gemeinwille, Gesellschaftsvertrag, Souveränität, Legitimität, Staatsbürgerschaft, Konstitution und Destitution, wir, öffentlicher Raum, Repräsentation, Gemeinschaftsgefühl, Gemeinschaft, Gesetzgeber, Debatte, Demokratie …
Mit diesen Begriffen lassen sich durchaus sehr unterschiedliche Dinge sagen. Wir können mit ihrer Hilfe Diskurse artikulieren, die entgegengesetzten politischen Lagern zuzuordnen sind, Diskurse, die die Form einer Legitimierung der Institutionen der liberalen Demokratie ebenso gut annehmen können, wie die Form einer Kritik am antidemokratischen Charakter dieser Institutionen oder eines Aufrufs zum Volksaufstand gegen unrechtmäßig agierende Institutionen. Doch diese Veränderlichkeit und Vielfalt der Stellungnahmen verhindert nicht, dass die Autoren, die sie aussprechen, ein und dieselbe Sprache teilen, sodass man sich in einer sonderbaren Situation befindet, in der jeder – von der Regierung bis zu oppositionellen Aktivisten, von konservativen Philosophen bis zu kritischen Theoretikern – mit denselben Wörtern spricht.
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