Die Art und Weise, wie die politische Theorie und wir alle den Begriff „Demokratie“ spontan gebrauchen, gehorcht derselben Logik, die wir bei Hobbes sahen. Wenn man sagt, die Demokratie sei die Regierung des Volks und für das Volk, dann tut man so, als sei diese Definition realistisch und deskriptiv, obwohl wir wissen, dass sie mythologisch ist oder, besser gesagt, dass die soziologische Beobachtung unmittelbar erlaubt, ihre Sinnhaftigkeit in Frage zu stellen. Wir belügen uns selbst. Und die Konsequenz einer solchen Behauptung ist einfach: Wenn wir die Demokratie als das System der „Regierung des Volks und durch das Volk“ definieren und wenn wir uns bewusst werden, dass der Ausdruck „Regierung des Volks und durch das Volk“ keinen Sinn hat, dann müssen wir eigentlich akzeptieren, dass wir über keinen Begriff der Demokratie verfügen … Wir haben keine andere als eine mythologische Definition der Demokratie.
Um ein anderes Beispiel zu geben: Wenn John Rawls sagt, dass in einer Demokratie die politische Macht die Macht der Öffentlichkeit ist, „das heißt der Gesamtheit der freien und gleichen Bürger“ 18, was sagt er dann damit aus, insofern dies eine Definition darstellt, der nichts an der Funktionsweise unserer Gesellschaften entspricht? Und was schreibt er letztlich anderes, als dass unsere Wirklichkeit nicht dem entspricht, was er Demokratie nennt? Und dann stellen sich eben die Fragen: In welchem System leben wir? Was sind wir? Welcher Unterschied besteht zwischen unseren Erfahrungen und denen eines Kolonialisierten oder eines Untertanen einer Monarchie? Wie kennzeichnet man sie? Wie werden wir regiert? Fürs Erste wissen wir es nicht. Wir wollen es nicht wissen, und deshalb ziehen wir es vor, uns auf die Lügen unseres politischen Diskurses zu verlassen. 19
4. Eine Kritik des Bewusstseins
Ziel dieses Buches ist es, den Zyklus der politischen Theorie abzuschließen und ein realistisches Verständnis unserer politischen Lage und unseres Verhältnisses zum Staat, zum Gesetz, zu uns selbst und den anderen zu erarbeiten. Es geht darum, die Schleier wegzureißen, die sich zwischen unserer Erfahrung und unserem Bewusstsein legen, darum, uns der fiktiven Argumentationen zu entledigen, die unsere Diskurse verstopfen und uns daran hindern, korrekt zu benennen, was ist und was wir erleben. Kurz, es geht darum, eine Phänomenologie der politischen Erfahrung auszuarbeiten, um eine andere Sprache und eine neue Begrifflichkeit zu schaffen.
In der Einleitung zu den Cartesianischen Meditationen hebt Husserl hervor, dass, wenn er über das Bewusstsein, das Subjekt und den Weltbezug nachzudenken beginnt, er unzählige unterschiedliche und widerstreitende Analysen vorfindet. Husserl schreibt, dass er sich diesem Feld hätte einschreiben können, was bedeutet hätte, die dieses Diskursuniversum konstituierenden Elemente zu den Grundlagen der eigenen Untersuchungen zu machen. Doch die Feststellung der Existenz einer wuchernden Vielzahl von Analysen führt ihn dazu, die umgekehrte Geste zu vollziehen. Man soll dieser Wucherung nicht noch Nahrung geben, sagt er. Man muss sie beenden. Sie verurteilt die Autoren dazu, sich in ein Universum zu fügen, das bereits in Bewegung ist und deren Grundprinzipien niemand in Frage stellt. Husserl behauptet also, dass es notwendig ist, sich von diesem Feld zu lösen, um zu neuen Meditationes de prima philosophia anzuheben: Man darf nicht versuchen, ins Feld einzutreten, sondern muss sich aus ihm zurückziehen, um es in seiner Ganzheit zu betrachten. 20
Wenn Husserl von seiner Methode spricht, dann evoziert er eine „Radikalität des Ausgangspunkts“ 21. Ich möchte hier dieselbe Geste vollziehen: die Begriffe, die man für gesichert hält, und die Wahrheiten, die offensichtlich erscheinen, einklammern, um das hervorzubringen, was Husserl auch eine „universale Bewusstseinskritik“ 22nennt.
Das Bewusstsein bestreiten
Wenn man versucht, die eingesessenen Kategorien des Diskurses aufzulösen, stellt sich notwendigerweise ein Problem: Als Theoretiker treten wir nicht nur in Konflikt mit anderen Theoretikern, sondern auch mit sozialen Akteuren, den Aktivisten, und ihren alltäglichen Redeweisen. Im Laufe dieses Buches werde ich zum Beispiel die Stichhaltigkeit der Kategorie des Ungehorsams in Frage stellen. Das bedeutet für mich, dass ein Aktivist, der sagt „ich leiste Ungehorsam“, eigentlich etwas anderes erlebt, als was er zu erleben glaubt: Er benennt auf inadäquate Weise seine Handlungen mittels der aktuell verfügbaren Sprache. Auf dieselbe Weise wird mich die Infragestellung umfassender Kategorien wie „Volk“, „wir“, „Gemeinschaft“, „Staatsbürgerschaft“, „Demokratie“ und „Volkssouveränität“ dazu führen, auf Distanz zu einer großen Anzahl von Aussagen zu gehen, die in und von Sozialbewegungen getätigt werden.
Die Kategorien unseres politischen Diskurses lassen uns gewissermaßen ein verdoppeltes Leben erfahren, in dem wir konkret eine gewisse Anzahl von Erfahrungen machen, die wir anders benennen, als es angebracht wäre. Es besteht eine Autonomie der Erfahrung, Autonomie dessen, was wir erleben, gegenüber den Wörtern, die wir verwenden, um es zu bezeichnen. Die Sprache erzeugt ein falsches Selbstverhältnis, das nicht notwendigerweise die Wahrheit des Erlebten verändert.
Dieses Buch soll dazu beitragen, den Abstand zwischen den Wörtern und den Dingen zu beseitigen. Es hängt also mit einer bestimmten Ethik der Theorie als Praxis zusammen, die nicht darin besteht, die Wörter, die im sozialen Feld zirkulieren und die die Leute verwenden, gutzuheißen, sondern darin, die spontanen Sprachpraktiken in Frage zu stellen, um das thematisieren zu können, was sich ohne das Wissen der Akteure – im Verborgenen und ohne Rücksicht auf die Wörter, die sie verwenden – vollzieht.
Anders gesagt, man wird niemals die Gültigkeit einer Begrifflichkeit begründen können, indem man die Tatsache anführt, dass Akteure sie im realen Leben verwenden und dass sie sie gebrauchen, wenn sie von sich sprechen. Dass man sich auf diese Wörter beruft, heißt nicht, dass sie wahr sind. Das ist nur der Beweis dafür, dass wir als Subjekte innerhalb eines gegebenen Diskursuniversums geboren werden und dass wir, um unser Leben und Tun zu denken, auf die Sprache zurückgreifen, die uns zur Verfügung steht. Man bräuchte nur die – letztlich banale – Tatsache in Betracht zu ziehen, dass wir dazu neigen, unser Dasein im Modus der Lüge zu erfassen und wiederzugeben.
Die Rolle des Theoretikers besteht oft darin, die sedimentierten Kategorien des Diskurses und die spontanen Formen des Bewusstseins in Frage zu stellen, die nicht das beschreiben, was ist, sondern das Subjekt dazu leiten, sein Leben verfälscht zu erleben. Das heißt auch, um dem eine weitere Dimension hinzuzufügen, die Frage der Sprache und des Bewusstseins zu stellen. Wenn man zu sehr an die Macht der Wörter glaubt, wenn man annimmt, dass die Sprache die Erfahrung konstruiert, dann zerstört man eigentlich die Möglichkeit einer Reflexion, die etwas anderes als eine Bestätigung etablierter Ideologien ist. Da die Kategorien nach dieser Auffassung die Erfahrung formen, beschränkte sich die Rolle der Theorie darauf, diese Kategorien zu beschreiben und zu berichten, wie die Akteure sie handhaben. Doch wenn umgekehrt die Sprache falsch ist, dann eröffnet sich ein Raum für eine entmystifizierende Theorie, deren Funktion darin besteht, die Kluft zwischen dem zu erhellen, was die Leute sagen und denken, und der Wahrheit dessen, was sie sind und tun.
In Die Verdammten der Erde legt Fanon eine Reflexion über den Unterschied zwischen der Funktionsweise der Macht in Kolonialgesellschaften und in kapitalistischen Gesellschaften dar, die es ermöglicht zu veranschaulichen, worum es geht. Er behauptet, dass beide Gesellschaften von Unterdrückungssystemen durchzogen sind. Aber diese Systeme funktionieren unterschiedlich und organisieren unterschiedlich das Verhältnis derer, die diese Systeme erdulden, zu ihnen. In der Kolonialwelt ist das Verhältnis der Individuen zur Gesellschaftsordnung und der Gesellschaftsordnung zu den Individuen durch Gewalt geprägt. Es ist eine Welt mit zugewiesenen Plätzen, Grenzen, Trennungen – „die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt“ –, und die „Trennungslinie“ wird von den Kasernen und Polizeiposten markiert. 23Der Kolonisierte steht in direktem Bezug zu Gendarmen und Soldaten, die ihn mit „Gewehrkolbenschlägen“ und „Napalmbomben“ an seinen Platz verweisen. Zwischen den Individuen und der Ordnung gibt es keine Vermittlung. In kapitalistischen Gesellschaften geschieht die Anweisung der Individuen an ihre Plätze auf andere Weise. Hier entfalten sich die Mechanismen nicht mit offener Brutalität und man bekennt sich nicht zur Gewalt. Hier laufen Verleugnungsprozesse ab. Der Bezug zur Ordnung verläuft über eine ganze Reihe von insbesondere kulturellen und schulischen Vermittlungen: „In den kapitalistischen Ländern schiebt sich zwischen den Ausgebeuteten und der Macht eine Schar von Predigern und Morallehrern, die für Desorientierung sorgen.“ 24Sie schaffen um die Ausgebeuteten eine „Atmosphäre der Unterwerfung und Entsagung, welche den Ordnungskräften ihre Arbeit beträchtlich erleichtert.“ Die Kultur, die Schule, die Religion, die Bildung schaffen „ästhetische Formen des Respekts der etablierten Ordnung“ und die Individuen nehmen die ihnen in der Gesellschaftsordnung zugewiesene Position an, ohne direkten Kontakt mit den Ordnungskräften haben zu müssen – sie nehmen sie fast von allein ein.
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