Auf den ersten Blick scheint HerderHerder, Johann Gottfried hier die MutterspracheMuttersprache/mother tongue genau im Sinne der langue langue-LinguistikLinguistik zu bestimmen, und David Martyn hat dementsprechend einen Großteil seines Arguments über die Entstehung der modernen EinsprachigkeitEinsprachigkeit auf dieser Passage aufgebaut (Martyn 2014). In der Muttersprachlerin scheint die MutterspracheMuttersprache/mother tongue inkarniert, und in ihr sind für ihn wiederum „Gedanke und Ausdruck“ ununterscheidbar. Allerdings ist die MutterspracheMuttersprache/mother tongue für Herder eben nicht ein feststehendes Regelwerk, sondern vielmehr Garant sprachlicher Kreativität. Es geht ihm ja gerade um die Beförderung von OriginalitätOriginalität. Weil aber die Originalität des Denkens in Herders Augen von der Besonderheit des Ausdrucks abhängt, ja, mit ihr identisch ist, muss man bei der Produktion origineller poetischerPoetik/poeticspoetisch Werke dasjenige sprachliche MediumMedienMedium nutzen, das als einziges unmittelbar an die KognitionKognition gebunden ist, also die MutterspracheMuttersprache/mother tongue.
So schlüssig dies auch klingt, so ist es doch wichtig zu registrieren, welche Denkmöglichkeit HerdersHerder, Johann Gottfried Überlegungen ausschließen. Denn es liegt auf der Hand, dass literarische OriginalitätOriginalität prinzipiell im Rückgriff auf alle möglichen Arten von SprachvielfaltSprachvielfalt erreicht werden könnte, ohne die Beschränkung auf die eine MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Dies läge im Grunde in der Konsequenz der OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik und des Innovationszwangs der modernen Literatur, die immer von „Dreustigkeit“ getrieben sein muss. Herder lässt das aber nicht gelten, und zwar, weil diese Dreistigkeit in „Gesetzlosigkeit“ münden könnte. Es ist, so gesehen, das paradoxe Bestreben, zugleich innovativ und in der Tradition verhaftet zu sein, vor dessen Hintergrund Herder die MutterspracheMuttersprache/mother tongue als festen Grund beschwört. Gerade weil es der „neueren deutschenDeutschlanddeutsch Literatur“ auf Originalität ankommt, weil sie im Kern eine Form der sprachlichen Kreativität und „Dreustigkeit“ ist, weil sie also Sprachentwicklung und damit Sprachvielfalt befördert, sieht sich Herder, will er „Gesetzlosigkeit“ vermeiden, dazu gezwungen, die erlaubten Mittel zu ihrer Erzeugung einzuschränken.
HerdersHerder, Johann Gottfried Streben nach OriginalitätOriginalität gründet in der wohlwollenden Einsicht in die Eigendynamiken der Moderne, die nach neuen (literarischen) Mitteln verlangt; es ist insofern in einem ganz grundlegenden Sinne politischPolitik/politicspolitisch/political. In anderen Zusammenhängen, z. B. in seiner 1778/79 veröffentlichten VolksliedersammlungVolkVolkslied, hat Herder durchaus auch auf anderssprachigeanderssprachig poetischePoetik/poeticspoetisch Formen und Quellen als MediumMedienMedium der Erneuerung zurückgegriffen.2 Größtenteils im MediumMedienMedium der ÜbersetzungÜbersetzung/translation präsentiert er hier bekanntlich liedförmige Texte aus sehr unterschiedlichen Kontexten und Zeiten, denen aber gemeinsam ist, dass sie Originale sein sollen in dem Sinne, den Herder dem Wort zuvor sowohl in seinen Überlegungen zur Ode als auch in seinem Ossian-Briefwechsel gegeben hatte: So wie die antiken Oden Herder zufolge an der Grenze von Natur- und Sprachlaut arbeiten, dem SprachmaterialSprachmaterial also seine Ausdrucksfähigkeit erst abgewinnen, erschließen die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied neue Formen des sprachlichen Ausdrucks; sie sind sprachschöpferisch und können gerade deshalb einer neuen Zeit dienlich sein. Die unterstellte Nähe zum VolkVolk ist nur bedingt in einem modernen nationalenNationnational Sinne zu verstehen, und die „neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur“, der die VolksliedersammlungVolkVolkslied sich zurechnet, ist auch im alten Sinne des Wortes ‚deutschDeutschlanddeutsch‘, also ‚vom Volk‘, indem sie dessen undisziplinierte Energie kanalisiert – in ein allerdings zumindest auf der Oberfläche einsprachiges MediumMedienMedium.
Anders als viele anschließende Projekte – darauf komme ich gleich zurück – ist HerdersHerder, Johann Gottfried VolksliedersammlungVolkVolkslied daher nur bedingt ein Instrument der Nationenbildung. Es geht natürlich um Anschluss an die Tradition, sowohl mit Blick auf deutscheDeutschlanddeutsch Kultur als auch mit Blick auf das Gedächtnis der Menschheit. Politisch ist die Sammlung aber auch und vor allem als Instrument der sprachlichen Erneuerung. Explizit betont dies das Schlusswort der Sammlung, das nicht nur die Offenheit der Sammlung für Ergänzungen hervorhebt, sondern eine produktive Rezeption auch jenseits des Sammelns in Aussicht stellt. Herder rät seinem Leser, die LiederLied nicht „in Einem Atem fortzulesen, damit er das Buch abtue und justifiziere“, auch nicht „sich schwindelnd aus Völkern in Völker [zu] werfen“, also aus ethnologischemethnologisch Interesse zu lesen, sondern „jedes Stück an seiner Stelle und Ort [zu] betrachten“ (Herder 1778/79: 427). Damit ist nicht zuletzt der durch die Sammlung, durch den Druck selbst gegebene Zusammenhang gemeint.3 Die Sammlung stilisiert sich als zeitgemäßerZeitgemäßheitzeitgemäß Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremderFremdheitfremd Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen LiederLied als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist.
Es ist diese abschließende Geste, die HerdersHerder, Johann Gottfried Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der VolksliederVolkVolkslied geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher OriginalitätOriginalität im Interesse eines anthropologischenAnthropologieanthropologisch UniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme, wie es Herders doppeldeutiger Begriff von ‚VolkVolk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er VolksliedVolkVolkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationalesNationnational und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein – und im MediumMedienMedium des Drucks ermöglichen, was die alte Volksdichtung im MediumMedienMedium der MündlichkeitMündlichkeit ermöglicht hat.4 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischenhistorisch Sinne verstehen. Denn OriginalitätOriginalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden.
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