Gegenüber diesen Ansätzen ist der Begriff der Affektivität – wie ihn die angloamerikanischen affect studies in den letzten Jahren eingeführt haben – anders konturiert: Er zielt in kritischer Absetzung von diskursanalytischen Ansätzen im Zeichen des Kultur-als-Text-Paradigmas auf die Materialität, den Vollzugscharakter und die „Sinnlichkeit des Sozialen“8. Wahrnehmung und gesellschaftliche Ordnung stehen demnach in einem Wechselverhältnis, das sowohl diskursiv vermittelt als auch an das sinnlich-affektive Erleben rückgebunden ist. Dabei liegt die Betonung auf ‚Wechselverhältnis‘: Erkenntnisleitend ist die Annahme, Sprache und literarische Texte als Ausdruck, Vollzug und Reflexion dieser Sinnlichkeit des Sozialen zu begreifen. Die Unterscheidung von Affekten und Emotionen, die auch in den folgenden Beiträgen keineswegs immer trennscharf und auch nicht einheitlich ist, ist so gesehen weniger eine Frage des Untersuchungsgegenstands als vielmehr der Herangehensweise und der theoretischen Perspektivierung.
1 Die Perspektive der Mehrsprachigkeit
„Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben, aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit […].“1 Mit dieser Aussage reflektiert Herta MüllerMüller, Herta eine Form der Mehrsprachigkeit, die auf den Entstehungskontext bezogen ist, im literarischen Text selbst aber nicht unmittelbar hervortritt. Im Anschluss an die Studie von Guilia RadaelliRadaelli, Giulia zum Sprachwechsel bei Elias CanettiCanetti, Elias und Ingeborg BachmannBachmann, Ingeborg lässt sich hier von einer „latenten“ Form der Mehrsprachigkeit sprechen, die im Gegensatz zu „manifester“ Mehrsprachigkeit dadurch charakterisiert ist, dass „andere Sprachen nur unterschwellig vorhanden und nicht unmittelbar wahrnehmbar sind“2. Um diese auf den ersten Blick „einsprachige Oberfläche“3 untersuchen zu können, hat Radaelli ein differenziertes begriffliches Instrumentarium zur Beschreibung von manifesten sowie latenten Formen von Mehrsprachigkeit entwickelt. Ihr zufolge besteht manifeste Mehrsprachigkeit entweder aus einem Sprachwechsel oder einer Sprachmischung, die unterschiedliche Qualitäten und Markierungen aufweist und auf unterschiedlichen Ebenen (syntaktischer, lexikalischer usw.) wirksam ist, sodass „an der Oberfläche des Textes mehrere Sprachen auftauchen“4. Dagegen sei ein Text latent mehrsprachig, wenn wie im Falle Müllers andere Sprachen zwar ‚mitschreiben‘, diese aber an der Oberfläche nicht wahrnehmbar werden. Eine solche Form der Mehrsprachigkeit meint beispielsweise auch Marica BodrožićBodrožić, Marica, wenn sie ihre Erst- bzw. Muttersprache als ein aus der Tiefe herauftönendes „Unterpfand“5 bezeichnet. Weitere latente Formen von Mehrsprachigkeit bilden Verweise auf andere Sprachen, die Eingliederung von einer oder mehreren Sprachen in die Literatursprache6 sowie Sprachreflexionen. Die jeweilige Bedeutung von manifester oder latenter Mehrsprachigkeit, zu der Radaelli auch das Auftreten von Sprachvarietäten und erfundenen Sprachen zählt, lässt sich jedenfalls nicht von vorneherein bestimmen, sondern ist vielmehr das Ergebnis der konkreten Interpretation, die immer den Entstehungskontext des Textes und den historischen Status der jeweiligen Sprachen einbeziehen muss.7
Wie die jeweilige Sprachwahl letztlich zustande kommt und welche Folgen sie für den jeweiligen literarischen Text hat,8 ist zweifellos eine Frage, die auch bezogen auf Affekte und Emotionen von Bedeutung ist und in auffällig vielen Poetik-Vorlesungen zum Gegenstand expliziter Reflexion wird. Die sprachbiographischen Erkundungen, die die mehrsprachige Textproduktion aus Sicht der Autoren und Autorinnen beleuchten, haben sich inzwischen als unentbehrliches, wenn auch nicht unproblematisches Arbeitsmittel der Mehrsprachigkeitsforschung etabliert.9 Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass Mehrsprachigkeit als soziales Phänomen eine Perspektive erfordert, die textanalytische und autorpoetische Fragestellungen aufeinander bezieht. Gerade in ihren vielfältigen Formen wird der spezifisch affektive Gehalt literarischer Mehrsprachigkeit kenntlich. Ziel dieses Bandes ist es daher, das Verhältnis von Affektivität und Mehrsprachigkeit erstmals zu konturieren, bislang disparate Forschungsfelder in produktiven Austausch miteinander zu bringen und neue theoretische Perspektiven zu entwickeln.
Philologie der Mehrsprachigkeit
Mit dem Begriff der Mehrsprachigkeit ist – über die hier aufgeführte, analytische Unterscheidung von manifester und latenter Mehrsprachigkeit, von Sprachwechsel und Sprachmischung hinaus – vor allem eine grundlegende sprachtheoretische Perspektive aufgerufen. Sie hat weitreichende Implikationen für das Verständnis von Sprache und Literatur überhaupt und wird seit einigen Jahren in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft unter dem Stichwort einer Philologie der Mehrsprachigkeit verhandelt.1
Mehrsprachigkeit beschreibt hier nicht mehr einen Sonderfall oder eine spezielle Konstellation, die es gegenüber dem vermeintlichen Normalfall der Einsprachigkeit zu erklären gelte. Vielmehr ist im Anschluss an Michail BachtinBachtin, Michail, der in gewissem Sinne als Vorläufer der Mehrsprachigkeitsphilologie erscheint, davon auszugehen, dass das „gesellschaftliche Leben des Wortes“2 immer mehr als eine Sprache involviert. Ob in der Redevielfalt des Alltags, im vielfältigen Schriftverkehr oder in der Literatur: Mehrsprachigkeit ist der modus operandi des Sprechens und Schreibens und impliziert eine andauernde Bewegung, die sich linguistischen Normen durchaus entzieht und gerade im literarischen Text immer neue Formen ausprägt.3
Erst vor diesem Hintergrund wird die Vorstellung, dass es eine, und nur eine Sprache geben soll, als das spezifische sprach- und literaturpolitische Paradigma der europäischen Moderne erkennbar.4 Im Umkehrschluss stellt die Perspektive der Mehrsprachigkeit damit nicht nur die Abgrenzung einzelner Sprachen in Frage, sie hinterfragt auch die normative Zuschreibung von Gattungs- und Geschlechtergrenzen sowie von Autorschaftskonzepten, die die ‚Beherrschung der Muttersprache‘ zu einer Grundbedingung erklären.5
Die kritische Auseinandersetzung mit dem nationalen Monolingualismus bildet für die Philologie der Mehrsprachigkeit einen wichtigen Einsatzpunkt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die praktischen und sozialen Aspekte der sprachlichen Kommunikation, denn wie schon Benedict AndersonAnderson, Benedict in seiner Studie zur Entstehung von Nationalstaaten als Imagined Communities gezeigt hat, spielt gerade die Praxis einer geteilten Schrift- und Drucksprache eine herausragende Rolle für die Prozesse des nation building : Die Schriftsprache lässt einen geographisch umrissenen Vorstellungsraum der Gemeinschaft entstehen, der wiederum modellbildend für die moderne Idee der Nation wirkt.6 Bis in die Gegenwart ist der Nexus von Sprache und Politik in hohem Maße affektiv aufgeladen; über ihn können Gefühle der Zugehörigkeit und der Gemeinschaft ebenso wie der Nicht-Zugehörigkeit bis hin zum Hass mobilisiert werden.
Dass sich auch die Entwicklung der Geisteswissenschaften in diesem Spannungsfeld vollzieht und vollzogen hat, liegt auf der Hand. Gerade die Geschichte der Germanistik zeigt, dass ihre Gegenstände und Traditionen stets im Zeichen der Nationalgeschichte systematisiert und gedeutet wurden, sodass sich in Analogie zu den Sozialwissenschaften von einem ‚methodologischen Nationalismus‘ sprechen lässt.7 Literaturen jenseits des Imaginären der Nation waren aus dem deutschsprachigen Kanon lange ausgeschlossen, während sich in den englischsprachigen humanities die Verbindung zur Geschichte des nationalen Imaginären durch die Formierung der postcolonial studies schon seit den 1980er Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt hat.8
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