Stefan Neuhaus
Der Krimi in Literatur, Film und Serie
Eine Einführung
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
Umschlagabbildung: Silhouette von Basil Rathbone als Sherlock Holmes.
Quelle: By Rumensz – Own work, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30967870
Prof. Dr. Dr. h.c. Stefan Neuhausist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz.
© Henriette Kriese
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
ISBN 978-3-8252-5556-5 (Print)
ISBN 978-3-8463-5556-5 (ePub)
1. Einleitung
1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre
Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern legt die Vermutung nahe, dass es kein populäreres Genregibt als den Krimi. Stellvertretend für viele sei auf zwei Superlative hingewiesen: „Nur von ShakespeareShakespeare, Williams Werken und von der Bibel sind mehr Exemplare verkauft worden als von [Agatha] ChristieChristie, Agathas Romanen, inzwischen über zwei Milliarden“ (Hamann 2016, 26). Nach den Romanen und Erzählungen setzten Filme und Serien die Erfolgsgeschichte fort. Für die Erstausstrahlung der Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Verfilmung Das HalstuchDas Halstuch als sechsteiliges Fernsehspiel im Januar 1962 wurde die sensationelle Einschaltquote von 89 Prozent ermittelt.
Einführungen in die Kriminalliteratur gibt es bereits (v.a. Vogt 1971; Vogt 1998; Nusser 2009), ein Handbuch von 2018 dokumentiert den Forschungsstand (Düwell u.a. 2018). Ebenso hat der Kriminalfilm in seinen verschiedenen Ausprägungenimmer wieder Beachtung erfahren (Hickethier 2005; Grob 2012; Koebner/Wulff 2013). Dazu kommen Studien zu Subgenres und besonderen Themen (z.B. Föcking/Böger 2012; Hißnauer u.a. 2014). Allerdings ist das Feld der grundlegenden Handreichungen immer noch übersichtlich, wenn man sie mit dem Erfolg des Genres vergleicht.
Der wichtigste Grund dürfte sein, dass die Popularität des Genres als Zeichen schneller Konsumierbarkeit und somit als Beleg für seine Trivialität gewertet wird (vgl. z.B. Alewyn 1998, 52; Wörtche 2007, 344; Nusser 2009, 11; Worthington 2011, 1). Mit anderen Worten: Wenn etwas so einfach gestrickt ist wie ein Krimi, dann lohnt sich keine (literatur- oder kultur-)wissenschaftliche Auseinandersetzung (es sei denn, man blickt auf das Genre als Kulturbetriebsphänomen). Dieses Urteil ist allerdings ein Vor-Urteil. So hat beispielsweise Josef HoffmannHoffmann, Josef in seiner Studie Philosophien der KriminalliteraturPhilosophien der Kriminalliteratur versucht, die „Entstehung der Kriminalliteratur aus dem Geist der westlichen Philosophie“ zu erklären (Hoffmann 2013, 41). Auch andere Genres waren oder sind populär und auch hier ist der größere Teil stets eher der Unterhaltung gewidmet. Das heißt aber nicht, dass es nicht einen Anteil an herausragenden, innovativen und im Wortsinn bemerkenswerten Beispielen gibt, die eine genauere Betrachtung geradezu herausfordern. GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Die Leiden des jungen WertherDie Leiden des jungen Werther und Die WahlverwandtschaftenDie Wahlverwandtschaften sind frühe Beispiele für Liebesromane – aber doch wohl keineswegs trivial.
Die bisherigen Studien, Sammelbände und Nachschlagewerke können keinen historischen Überblick über den ‚ganzen‘ Krimi geben, obwohl beeindruckende Versuche vorliegen (vgl. z.B. Arnold/Schmidt 1978 u. Walter 2002). Der vorliegenden Einführung kann und wird es ebenfalls nicht gelingen, alle Medien und Aspekte abzudecken und das allein für den „Kriminalroman“ festgestellte „erhebliche[s] Forschungsdesiderat“ zu beheben (Wörtche 2007, 345). Dennoch soll erstmals der Versuch gewagt werden, den Krimi in Literatur, Film und Serie gemeinsam beispielhaft zu beleuchten. Auch das kann natürlich nur sehr selektiv geschehen, und dies bereits, wenn es um die Einbeziehung anderer kultureller Traditionen geht. Die im deutschsprachigen Raum besonders populäre US-amerikanische und britische Krimi-Tradition soll in die Darstellung mit einbezogen werden.
Die Ausdifferenzierung des Genreshat zu einer segmentierten Betrachtung verschiedener Subgenres geführt, die allerdings in ihrer idealtypischen Ausprägung nur selten vorkommen. Wie soll man sinnvoll eine Kriminalerzählung von einer Detektivgeschichte oder einem Thriller abgrenzen? Die Handlung entwickelt sich äußerst selten entweder retrospektiv-analytisch oder in die Zukunft gerichtet, in den meisten Fällen findet man eine Mischung von beidem vor. Und wohin gehören beispielsweise die Spionageerzählung oder der Spionagefilm? James BondJames Bond jagt in der Regel nicht politisch motivierte Verbrecher, sondern Kriminelle, die den Globus in Geiselhaft nehmen.
Kriminelle Handlungen sind in Literatur und Film ohnehin an der Tagesordnung. Letztlich kann nur das gewählte Analyseraster offengelegt und dann am Einzelbeispiel diskutiert werden, welches Thema überwiegt: Die Krimihandlung oder die Liebe zwischen den Protagonisten, selbst wenn gewalttätiges Verhalten eine große Rolle spielt, oder ein politisches Thema wie Rassismus, auch wenn Polizei und Gerichtsverfahren einen breiten Raum einnehmen. Ist also Harper LeeLee, Harpers To Kill a MockingbirdTo Kill a Mockingbird ( Wer die Nachtigall stört ) von 1960, ein moderner Klassiker der US-amerikanischen Literatur, nun ein Krimi? Wie steht es mit der Verfilmung von 1962 unter der Regie von Robert MulliganMulligan, Robert, die drei Oscars bekam und als einer der besten amerikanischen Filme überhaupt gilt? (AFI’S 100 Years 2019). Gregory PeckPeck, Gregory spielt die Hauptrolle, einen Anwalt, der einen Farbigen verteidigt, wobei der Plot als allegorische Anklage des alltäglichen Rassismus in den USA angelegt ist. Handelt es sich nun bei Buch und Film um Krimis?
Offenbar ja, denn es sind gleich mehrere Merkmaledes Krimis zu finden – ein (angebliches) Verbrechen, Polizeiarbeit, eine Gerichtsverhandlung und am Ende noch versuchter Mord mit Notwehr. Andererseits zögert man, auch weil der Begriff des Krimis in der Praxis seiner Verwendung so weit herabgesunken ist, dass er vor allem die populären Ausprägungen des Genres meint. Deshalb ist beispielsweise Tatort-Kommissar Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, so umstritten. Vor allem jene, die Entspannung durch Spannung suchen und erwarten, dass gängige Muster des Genres bedient werden, fühlen sich überfordert. Angriff auf Wache 08Angriff auf Wache 08 von 2019 beispielsweise (Regie Thomas StuberStuber, Thomas, mit ihm gemeinsam schrieb Schriftsteller Clemens MeyerMeyer, Clemens das Drehbuch) hatte am 24.08.2019 Premiere auf dem Festival des deutschen Films – unüblich für eine Fernsehproduktion (Angriff auf Wache 08 2019).
Die grundlegenden Fragen danach, was das Genre ausmacht, sind alles andere als neu. Ein Beispiel für die Wirkmacht von Tradierungen: Für die Forschung steht offenbar fest, dass das Genre mit Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Murders in The Rue MorgueMurders in The Rue Morgue ( Die Morde in der Rue Morgue ) beginnt (vgl. z.B. Scaggs 2005, 7; Düwell 2018, 286), obwohl in der deutschsprachigen Literatur bereits mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre eine bahnbrechende und zentrale Kriminalerzählung vorliegt und mit E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi wenige Jahrzehnte später eine Detektiverzählung (vgl. Bloch 1998, 40), die modern genug ist, um beispielsweise von ihr eine Brücke zu den Romanen um den Detektiv Brenner von Wolf HaasHaas, Wolf zu schlagen (zu möglichen weiteren Beispielen vgl. die Auswahl in Hamann 2016).
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