Peter NusserNusser, Peter wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserienaller Zeiten einordnen – ColumboColumbo mit Peter FalkFalk, Peter. Die legendäre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Michailowitschs Roman Schuld und SühneSchuld und Sühne (1866).
Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Aufgabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen – dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat. Die Rollen der Täter*innen wurden oft prominent besetzt, u.a. mit Faye DunawayDunaway, Faye, Martin LandauLandau, Martin, Janet LeighLeigh, Janet, Vera MilesMiles, Vera, Leonard NimoyNimoy, Leonard, Donald PleasencePleasence, Donald, Vincent PricePrice, Vincent oder Robert VaughnVaughn, Robert. Zu Mördern wurden auch Sympathieträger wie der Sänger Johnny Cash oder der frühe Musicalstar ( Mary PoppinsMary Poppins ; 1964) und spätere Krimi-Ermittler Dick van Dykevan Dyke, Dick ( Diagnosis MurderDiagnosis Murder , dt. Diagnose: Mord ; 1993 bis 2001 in 178 Folgen).
Dies nur als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man sich mit Begriffsdefinitionen des Krimis beschäftigt, auch wenn Definitionen ja eigentlich in der Lage sein sollten, halt- und überprüfbare Kurzcharakterisierungen zu liefern.
Wer Interesse an der bisherigen ‚idealtypischen‘ (Nusser 2009, 2) Begriffsbildung hat, der sei auf die älteren gängigen Einführungen verwiesen. Wer jedoch das Unbehagen über die geringe Trefferquote solcher Definitionen nachvollziehen kann, der möge mit auf die Reise gehen, den Krimi weniger aus Definitionen abzuleiten und stattdessen mehr auf die konzeptionellen Hintergründeund auf die Realisierungenin Literatur, Film und Serie zu achten – um zu einem (hoffentlich) ganzheitlicheren Verständnis des Genres zu gelangen.
Es gibt einige wenige grundlegende Merkmale des Krimis, die sich in einer Minimaldefinitionso zusammenfassen lassen:
Ein Krimi handelt von einer im Rahmen der für die fiktionale Realität geltenden Normen strafbaren Tat (oder von mehreren solcher Taten), um die herum Figuren und Handlung organisiert sind, und von deren Aufdeckung mit Hilfe von Indizien (‚clues‘), erschwert durch falsche Fährten (,red herrings‘). Zentral für den Krimi ist Spannung, vor allem Handlungs- und Rätselspannung, die auf die Frage nach dem Täter, nach den Motiven oder nach den Folgen der Tat zielen kann.
Die Bedeutung der (Handlungs-)Spannungund der Indizienbei der Aufklärung des Falles hat beispielsweise bereits der Philosoph Ernst BlochBloch, Ernst hervorgehoben (Bloch 1998, 41). Oft falle, so stellt er weiter fest, der Krimi „mit der Leiche ins Haus“ (Bloch 1998, 45). Die Leiche könne aber auch etwas „anderes“ sein. Bloch verweist beispielsweise auf Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1808), in dem es neben der Frage, wer den Krug zerbrochen hat, vor allem darum geht, wer die junge Eve nachts besucht und damit ihre Jungfräulichkeit bedroht hat.
Dennoch dürfte, außer in der Kinder- und Jugendliteratur (hier ist es, wie in Erich KästnerKästner, Erichs Emil und die DetektiveEmil und die Detektive von 1929, eher der Diebstahl), der Mordden Regelfall darstellen. Die Figuren, die im Mittelpunkt stehen, sind Opfer und (Straf-)Täter und solche, die die Täter verfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizist*innen oder (Privat-)Detektiv*innen, aber auch um Anwält*innen, an der Verbrechensaufklärung interessierte Bürger*innen oder Zeug*innen des Verbrechens, ebenso auf anderem Wege am Geschehen Beteiligte – wobei die Rollen wechselnund beispielsweise Ermittler*innen oder auch Täter*innen zu Opfern werden können.
Breiten Raum der Handlung nimmt die Schilderung oder die Erörterung des Verbrechens bzw. der Verbrechen ein. Zum üblichen Spannungsaufbau des Detektivromans hat beispielsweise Richard AlewynAlewyn, Richard festgestellt: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit? , wie der englische Slang die Gattung treffend bezeichnet“ (Alewyn 1998, 57). Auf der Suche nach den Täter*innen kommen dann die Indizien oder ‚clues‘ ins Spiel (Alewyn 1998, 61), dies betont auch den rätsellösenden Spielcharakterder Gattung. Nicht zufällig gibt es seit 1948 ein populäres Brettspiel namens Cluedo , bei dem ein Mordfall aufgeklärt werden muss. Denn es gilt: „Die Kunst der Detektion besteht darin, Clues zu sehen und zu lesen“ (Alewyn 1998, 62).
Zu fragen ist, was mit einer Kategorie „Verbrechensliteratur“ gewonnen ist. Welcher Krimi handelt nicht von Verbrechen, welche/r Polizist*in oder welche/r (Hobby-)Detektiv*in untersucht es nicht, welche Gerichtsverhandlung dreht sich nicht genau darum, welche Verfolgungsjagden im Thriller haben es nicht zum Anlass oder zur Wirkung? So handelt zwar der US-amerikanische Spielfilm Bonnie und ClydeBonnie und Clyde von 1967 (Regie: Arthur PennPenn, Arthur; mit Faye DunawayDunaway, Faye und Warren BeattyBeatty, Warren) wie andere Verfilmungen dieser ‚wahren Geschichte‘ von einem Pärchen, das raubend und mordend Anfang der 1930er Jahre durch den Süden der Vereinigten Staaten zieht. Abgesehen davon, dass die „Motivationen des Verbrechers“ (Nusser 2009, 1) in den Verfilmungen ganz unterschiedlich beleuchtet werden, ist diese eine Verfilmung wohl vor allem deshalb so bekannt, weil sie das Verbrechen als Road Movie inszeniert und an der Verfassung einer von der Jugend als erstarrt und einengend empfundenen Gesellschaft der späten 1960er Jahre starke Zweifel anmeldet.
Gattungsunterscheidungen wie jene zwischen Detektivgeschichte und Thriller sind selbst zum Stereotyp geronnen: „Dominiere die Zukunftsspannung in ‚Thrillern‘, so die Geheimnis- oder Rätselspannung im Detektivroman, der darin dem ‚analytischen Drama‘ gleiche“ (Anz 1998, 157; vgl. u.a. auch Wörtche 2007, 342). Wenn allerdings Gattungsdefinitionen und -unterscheidungen davon abhängig gemacht werden, ob die Handlung auf die Rekonstruktion eines Geschehens in der Vergangenheit oder auf ein Geschehen in der Zukunft gerichtet ist, dann wird vernachlässigt, dass selbst die eine Rekonstruktion unternehmende Handlung eine auf die Zukunft gerichtete sein muss, weil es ja darum geht, eine*n Täter*in dingfest zu machen – dies ist nicht selten mit Momenten der Gefahr oder sogar weiteren kriminellen Handlungen bis hin zum Mord verbunden.
Ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Thriller und Spionageroman. Nusser ordnet letzteren zwar ersterem unter: „Der Spionageroman ist thematisch, aber nicht strukturell von anderen Erscheinungsformen des Thrillers unterschieden“ (Nusser 2009, 116). Es gebe eine „wesentliche thematische Variation“ in der Behandlung von „politischen Strukturen und Machtverhältnissen, die der Leser normalerweise nicht durchschaut“ (Nusser 2009, 117). Beim paradigmatischen Beispiel des Genres – Ian FlemingFleming, Ians Figur James BondJames Bond – sind die Strukturen und Machtverhältnisse eigentlich nur am Anfang unklar und es dauert nicht lange, bis ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen James Bond und seinem Gegenspieler beginnt, der sich auch gern von Auftragskillern und vergleichbar ‚gewöhnlichen‘ Verbrechern helfen lässt. Dabei fällt auf, dass die Rolle des Gegenspielers oft prominent mit Schauspielern besetzt ist, die durch frühere Rollen bekannte Sympathieträger sind, in jüngerer Zeit etwa mit Oscar-Preisträger Christoph WaltzWaltz, Christoph, so dass ein reines Gut-Böse-Schema nur noch für jene funktioniert, die das Spielerische und Ironische des Konzepts ignorieren.
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