Die Voraussetzungen der Entwicklung eines solchen Genres im 18. Jahrhundert werden in der Regel mit Begriffen wie Aufklärungund dem bereits verwendeten Begriff Modernebezeichnet und mit der Ablösung des christlichen Weltbildes durch das naturwissenschaftlichesowie mit der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Verbindung gebracht. So hat Bertolt BrechtBrecht, Bertolt mit Blick auf den Kriminalroman von der „Annäherung an den wissenschaftlichen Standpunkt“ gesprochen (Brecht 1998, 34). Im 18. Jahrhundert verändern sich die ursprünglich noch weitgehend verbindlichen, wenn auch (etwa durch Ereignisse wie den 30-jährigen Krieg) bereits erschütterten Eckpfeiler zentraleuropäischen Lebens, dies betrifft sowohl die Abhängigkeit des Individuums von religiösen wie weltlichen Rahmensetzungen. Die Stellung des Individuums innerhalb einer Ständepyramide, in die es hineingeboren wurde, hat weitgehend ausgedient. Das Bürgertum entsteht und mit ihm ein neues Konzept von Individualität, das durch eine auf gesellschaftlichen Fortschrittorientierte Bildung, für die Vernunft und Tugendzentrale Begriffe sind, nun als neues Paradigma die größtmögliche Freiheit des Individuums setzt.
Nun erst kann ein Konzept „individueller Schuld“ (Luhmann 2016, 51) entstehen. Zugleich entfällt ein Anspruch auf ‚höhere‘ Gerechtigkeit, sofern die Individuen nicht weiterhin Religionen oder Ideologien vertrauen, auch wenn die Spuren solcher Konzepte bis in die normativen Ordnungen der Realität wie der Literatur weiterwirken. Die gewonnene individuelle Freiheit hat Folgen, die nicht immer absehbar sind: „Auch beste Absichten können üble Folgen haben und auch ein einwandfrei geführtes Leben kann miserabel enden“ (Luhmann 2016, 95).
Es kommt in der Moderne zu einer „doppeldeutige[n] Konstellation“: Das Subjekt ist einerseits „dasjenige, das unterworfen ist, das bestimmten Regeln unterliegt und sich ihnen unterwirft“, und es wird andererseits „zu einer vorgeblich autonomen, selbstinteressierten, sich selbst verwirklichenden Instanz“ (Reckwitz 2010, 14). Das „hybride Subjekt“ (Reckwitz 2006) wird also krisenhaft geboren. Die neuen Gestaltungsspielräume implizieren Gefahren, gerade in einer nun immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft: „Diese immanenten Heterogenitäten und Fissuren machen die [post-]modernen Subjektformen instabil und lassen sie potentiell als mangelhaft erlebbar werden: die Muster gelungener Subjekthaftigkeit enthalten damit sogleich spezifische Muster des Scheiterns der Identität“ (Reckwitz 2006, 19).
In einer solchermaßen veränderten Welt wird das, was wir unter Verbrechen verstehen, daher überhaupt erst möglich. Die Polizei beispielsweise, wie wir sie kennen, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts. Der Wechsel vom christlichen zum naturwissenschaftlichen Weltbild, vom ausgehenden Mittelalter zur Aufklärung macht ein ganz neues Regelsystem notwendig:
Dieser Wille zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird. (Foucault 2000, 15)
Michel FoucaultFoucault, Michel hat eine Geschichte des ‚Überwachens und Strafens‘ geschrieben (Foucault 1994). Im Mittelalter war ein Verbrechen das, was als Handlung nicht nur jemanden individuell oder eine Gruppe schädigte, sondern durch den Verstoß gegen die als göttlich angesehene Ordnung und ihre Vertreter direkt Gott beleidigte: „Das Verbrechen greift über sein unmittelbares Opfer hinaus den Souverän an; es greift ihn persönlich an, da das Gesetz als Wille des Souveräns gilt; es greift ihn physisch an, da die Kraft des Gesetzes die Kraft des Fürsten ist“ (Foucault 1994, 63). Und der hat seine Legitimation von Gott.
So erklärt sich die „peinliche Strafe“ (Foucault 1994, 46) als „Teil eines Rituals“ (Foucault 1994, 47), mit dem es, als Teil der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, auch „um die Rettung der Seele“ ging (Foucault 1994, 61). Deshalb sind die Verfahren damals andere als heute. Bereits ein Verdacht konnte eine aus heutiger Sicht unheimliche Evidenz haben: „Die Beweisführung bei Gericht gehorchte also nicht dem dualistischen System wahr/falsch, sondern einem Prinzip der stetigen Abstufung: eine bestimmte Stufe der Beweisführung bildete bereits eine Schuldstufe und hatte darum eine bestimmte Strafstufe zur Folge“ (Foucault 1994, 57).
Mit der Aufklärung entsteht ein individualitätsbasiertes Konzept von Humanität, das auch dazu führt, dass das frühere Strafsystem nicht mehr ‚verstanden‘ wird. Foucault stellt wohl auch deshalb etwas ironisch fest, dass „man die Strafen, die sich ihrer ‚Gräßlichkeit‘ nicht schämten, durch solche“ ersetzte, „die sich ihrer ‚Menschlichkeit‘ rühmten“ (Foucault 1994, 75). Oder noch schärfer: „Die ‚Aufklärung‘, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden“ (Foucault 1994, 285). Es lassen sich also nicht nur Brüche, sondern auch Kontinuitätenfeststellen, ebenso in der Tradierung religiöser Muster. Im deutschsprachigen Raum wirkt das christliche Weltbild sogar in der feudalen politischen Ordnung weiter. Noch 1813 ist „Mit Gott für König und Vaterland“ die Devise des von Friedrich Wilhelm III. von Preußen gestifteten Landwehrkreuzes.
Dennoch verändert sich die Machtverteilungimmer mehr von der horizontalen auf die vertikale Ebene. Um unter solchen Umständen noch eine funktionierende Gesellschaftsordnung gewährleisten zu können, muss ein immer ausgeklügelteres System implementiert werden, in dessen Zentrum die Selbstdisziplinierungdes Subjekts oder Individuums steht. FoucaultFoucault, Michel nennt dies „eine neue ‚politische Ökonomie‘ der Strafgewalt“ (Foucault 1994, 103). Zum Modell wird das von Jeremy BenthamBentham, Jeremy erdachte Panoptikum, das „die Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen“ zur Folge hat (Foucault 1994, 258). Die Gefängniszellen sind kreisförmig um einen Turm herum organisiert, aus dem heraus in die Zellen gesehen werden kann – aber nicht umgekehrt. Die Strafgefangenen können also nie sicher sein, wann sie überwacht werden. Das Panoptikum wird zum Modell der neuen, individualisierten Gesellschaft:
Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. (Foucault 1994, 260)
Das Panoptikum wird zum „Ei des Kolumbus im Bereich der Politik“, denn es „kann sich wirklich in jede Funktion integrieren (Erziehung, Heilung, Produktion, Bestrafung)“ (Foucault 1994, 265). In einer solchen „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994, 269) gibt es erstens keinen „Raum des Privaten“ (Hamann 2016, 29), der es erlauben würde, eine Grenze zum Politischen zu ziehen, und zweitens sind auch Krimis Teil der Ökonomie der Selbstdisziplinierung, etwa indem sie den Leser*innen vor Augen führen, welche Konsequenzen bei Straftaten drohen, oder indem sie ihnen ein Ventil bieten, Figuren ihre Aggressionen stellvertretend ausleben zu lassen, also ihre Impulskontrolle in der Realität stärken. Als problematisch werden daher immer wieder Produktionen gesehen, denen etwa das Potenzial zugeschrieben wird, gewaltstimulierend zu wirken – dies wäre der gegenteilige Effekt. Andererseits zeichnet es gerade die im Kulturbetrieb besonders wertgeschätzten Krimis aus, dass sie Aspekte der Disziplinargesellschaft für die Leser*innen transparent machen und so dabei helfen, die skizzierten Mechanismen kritisch zu hinterfragen, sofern sie einer ‚Unterwerfung‘ des Subjekts dienen.
Читать дальше