1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Die zweite kultiviert ideologische, teils auch totalitäre Vorstellungen, die es ermöglichen, die Kontingenz scheinbar zum Verschwinden zu bringen. Matthias DrobinskiDrobinski, Matthias hat es 2012 in der Süddeutschen Zeitung so formuliert: „Ob Christen, Juden, Muslime, Tierschützer oder Nichtraucher – unter ihnen allen gibt es einen Glauben, der weltweit die höchsten Zuwachsraten hat: den Fundamentalismus. Er ist der höchstpersönliche Ausweg aus der Individualismusfalle“ (Drobinski 2012). Solche Angebote sind deshalb verführerisch, weil sie den Menschen die Wahlentscheidungen und somit das Denken abnehmen. Die Übernahme von Musterngenügt, denn diese enthalten Handlungsdirektiven und basieren auf Versprechungen, die aber, weil sie der komplex gewordenen Realität entgegenstehen, illusorisch sind und bleiben. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb haben Illusionen, die für Realität gehalten werden können, Konjunktur. Es hat schließlich Tradition (vom Kaiserreich über den Nationalsozialismus bis zum Wahlprogramm der AfD), Authentizität zu suggerieren, die es nicht gibt (vgl. Bhabha 2007, 179), und das historische Gedächtnis (das zeigen würde, dass alles nicht einfach da, sondern Ergebnis von Kontingenz geprägter Entwicklungen ist) auf diese Weise zum Verschwinden zu bringen (vgl. Bhabha 2007, 237).
Die Folge ist eine paradoxe Situation: Donald Trump kommt bei den Wähler*innen besonders gut an, die am meisten durch ihn verlieren; die Fremdenfeindlichkeit ist dort am stärksten, wo es am wenigsten Fremde gibt. (Wenn es nicht so ernst wäre, könnte man witzeln: Der Glaube versetzt Zwerge.) Wobei der größte Teil der Bürger*innen oft gar nicht wählen geht oder sonst wie politisch handelt, weil er mit der Komplexität postmoderner Gesellschaftenüberfordert ist: „Apathie ist die logische Reaktion auf das Gefühl, nicht gebraucht zu werden“ (Sennett 2010, 202).
Mit diesen wenigen Bemerkungen kann nur ein weitaus komplexerer Nährboden angedeutet werden, aus dem heraus – um in der Metapher zu bleiben – Krimis als Sumpfblüten oder Orchideen (oder etwas dazwischen) wachsen und ihre Fans finden (oder auch nicht). Einige weitere Aspekte des Krimis gilt es noch etwas näher zu beleuchten.
2.4 Diskurse von (poetischer) Gerechtigkeit
Adolf LoosLoos, Adolf hat 1908 einen drastischen Vergleich gezogen: „Das kind ist amoralisch. Der papua ist es für uns auch. Der papua schlachtet seine feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein verbrecher. Wenn aber der moderne mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein verbrecher oder ein degenerierter“ (Loos 2019, 10). Loos macht zurecht darauf aufmerksam, dass die Auffassung von dem, was als Verbrechen gilt, zeit- und kulturabhängigist – und sein Text illustriert dies gleich unfreiwillig durch die höchst problematische Perspektive auf ‚das‘ Kind als amoralisch und auf ‚den‘ Papua als ‚das Andere‘. Auch literarische Texte verhalten sich entsprechend zu den Normen und Werten der Zeit, zugleich lassen sie sich aber – als der Kunst zugehörend und somit potenziell überzeitlich rezipierbar – auch auf die Normen und Werte der jeweiligen Rezeptionszeit beziehen.
Literatur macht die Leser*innen immer auch zu Richter*innenüber das Verhalten der Figuren: „The literary judge […] is committed to neutrality; properly understood“ (Nussbaum 1995, 86). Allerdings beeinflusst der Text mit seiner Strategie, Handlung und Figuren in (s)einer spezifischen Weise zu präsentieren, das Urteilsvermögen; manchmal wird dies – je nach Anlage des Texts – bei der Lektüre offensichtlicher, manchmal weniger offensichtlich. SchillerSchiller, Friedrich beispielsweise zeigt in Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre deutlich, dass die Taten des Protagonisten vor allem auf die sozialen Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, auf seine Herkunft und das Verhalten anderer ihm gegenüber. Aus dieser Sicht erscheint das Urteil am Schluss als ungerecht.
Zudem ist festzuhalten, dass der Krimi auch deshalb ein besonders anspruchsvolles künstlerisches Genre sein kann, weil er durch seine Rätselstrukturimmer auch nach einem übergeordneten Sinn fragen und auf diese Weise nicht nur sich selbst als Literatur, sondern auch den Konstruktionscharakter von Wirklichkeitthematisieren kann:
In der Detektivliteratur, die die Wahrheit künstlich unzugänglich macht, wird der besondere Zugang des fiktionalen Diskurses zu dem, was in ihm als wahr ausgesagt werden kann, gewissermaßen noch einmal in die Fiktion eingeführt. Ihre Entstehungsbedingungen betreffen daher den Status des fiktionalen Diskurses selbst, nämlich die Art und Weise, in der er sich schließt. (Niehaus 2003, 375)
Beispiele für die Metafiktionalitätvon Krimis werden immer wieder zu nennen sein, ohne dass auf diesen Aspekt genauer eingegangen werden könnte (zu Literatur und Metafiktion vgl. v.a. die Arbeit von Mader 2017). Die Dreifachstruktur ‚generelle außersprachliche Realität – konkrete gesellschaftlich-kulturelle Realität – fiktionale Realität‘ ist noch durch eine dreifache zeitliche Struktur zu ergänzen: ‚Zeit der Handlung – Zeit der Entstehung und Veröffentlichung – Zeit der Rezeption‘. Dies wird im Krimi besonders am Beispiel von Normen verhandelt. Es betrifft nicht nur Gesetze, sondern auch Verhaltensweisen, also juristische wie moralische Normen, die sich durch die Zeit verändern oder innerhalb einer Zeit als im Wortsinn frag-würdig dargestellt werden können.
Schon allein die Frage nach dem, was unter Gerechtigkeit verstanden werden kann, eröffnet ein schier unermessliches Diskurspotenzial:
Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage haben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen. (Kelsen 2016, 9)
Die Vokabel ‚resigniert‘ ist angesichts des ursprünglichen Veröffentlichungsdatums von Hans Kelsens Schrift – 1953 – nur zu verständlich, steckte doch allen noch der Schrecken des Krieges und des Holocausts ganz unmittelbar in den Knochen. Aus heutiger Sicht scheint – abgesehen von zentralen Werten, wie sie in der UN-Menschenrechtscharta festgelegt sind – die Pluralität von Meinungen eher eine Stärke demokratisch verfasster Gesellschaften zu sein. Auch die, wie sie korrekt heißt, „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, eine rechtlich nicht bindende Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948, lässt noch genug Spielraum für Interpretationen und Adaptionen.
Das angesprochene Diskurspotenzialkann sich in der Literatur, die bekanntlich nicht an die Grenzen der Realität gebunden ist, noch einmal vervielfachen und es wird zu zeigen sein, dass die Antworten nicht nur zeitlich und kulturell bedingt sehr unterschiedlich ausfallen können, sondern dass sie auch immer, angesichts der Individualität der Protagonist*innen des Verbrechens und seiner bei aller Vergleichbarkeit stets vorhandenen Singularität, eine gewisse Unschärfeaufweisen. Gerade Literatur hat, weil sie polykontextuell, polyperspektivisch angelegt und polyvalent ist, das Potenzial, darauf aufmerksam zu machen: „literature and the literary imagination are subversive“ (Nussbaum 1995, 2). Es hilft auch nichts, wenn eine spezifische Auffassung von Gerechtigkeit vorausgesetzt wird. Damit würde nur, wie in der Trivialliteratur üblich, überdeckt, dass es hinter dieser Setzung keine überzeugende Begründung gibt.
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