Letztendlich stelle ich mir diese Arbeit als Anregung und als zusätzliche Orientierungshilfe für weitere Forschungen zum gesprochenen Portugiesisch vor. Dabei wäre auch eine Anwendung auf andere romanische Sprachen durchaus denkbar. Dieser Optimismus beruht auf der besonderen Eignung des an dieser Stelle benutzten Konzepts und Modells, seiner Operationalisierbarkeit, seiner streng systematischen und hierarchischen Gliederung sowie auf der universalen Geltung seines Axioms und seiner Diskursverfahren.
Neben der bereits erwähnten Operationalisierbarkeit sowie Universalität seiner Parameter und Diskursverfahren bietet das Modell des ‚Nähe- und Distanzsprechens‘ den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass sich auch der Sprachgebrauch von kommunikativen Praktiken der ‚Neuen Medien‘ – im Folgenden möchte ich für die Bezeichnung dieser Kommunikationsform den Terminus „keyboard-to-screen communication“ (Imo 2015) verwenden – im Rahmen dieses Modells systematisch erklären lässt. Ins Zentrum meiner Untersuchung stelle ich allerdings den Bereich des prototypischen Nähesprechens (Alltagsdialoge). Die Vorstellung und Interpretation einiger portugiesischer Tweets aus dem Bereich des peripheren Nähesprechens beschränke ich hingegen auf Kapitel und sprachliche Erscheinungen, für die sich eine solche Erörterung anbietet und besonders relevant ist – z.B. innerhalb der Beschreibungsparameter ‚Code‘ und ‚Medium‘.
Prinzipiell ließen sich auch die Nähesprachlichkeit anderer kommunikativer Praktiken der „keyboard-to-screen communication“ wie Einträge in Weblogs, Internetforen oder den Chats in sozialen Netzwerken wie Facebook etc. mit Hilfe des hier angewendeten Konzepts untersuchen. Alle diese kommunikativen Praktiken fallen durch einen Sprachgebrauch auf, der den Formen medial mündlichen Nähesprechens teilweise ähnelt und analoge Ausdrucksformen und Strukturen aufweist. Zudem handelt es sich um Formen, die zunehmend einen großen Teil unserer kommunikativen Wirklichkeit bestimmen und dabei radikale Veränderungen unserer zwischenmenschlichen Umgangsformen nach sich ziehen. Zum Anlass der Verleihung des ‚Konrad-Duden-Preises‘ äußerte sich Peter Schlobinski, Professor an der Universität Hannover, folgendermaßen zur Radikalität dieses Wandels (Schlobinski 2012, 18):
Die digitale Revolution integriert alle Errungenschaften vorangegangener Medienrevolutionen unter einem Dach. Multimedialität und -modalität, Medienkonvergenz und Transmedialität sind die Schlüsselbegriffe dieses Prozesses. Doch im Kern führt diese Mediamorphose zu einem integrierten, allumfassenden Kommunikationssystem, einem Unimedium, in dem reale, imaginär-fiktionale und virtuelle Welt aufeinander bezogen sind. Und das Unimedium globalisiert Sprache und Kommunikation in einer neuen Qualität. Es macht Kommunikation frei konvertierbar und die Währung sind Bits und Bytes.
Für den Sinn der vorliegenden Studie spricht zudem, dass die Forderung nach Beschäftigung mit der gesprochenen Sprache aus der Perspektive angewandter Linguistik zunehmend lauter wird17. Gerade in jüngster Zeit widmet sich die Didaktik der Fremdsprachenvermittlung gezielt der gesprochenen Sprache und ihrer Einbeziehung in den Fremdsprachenunterricht. Die Kenntnis zentraler Merkmale und das Beherrschen der spezifischen Ausdrucksmittel mündlicher Kommunikation werden zum integralen Bestandteil einer entsprechenden „interaktionalen Kompetenz“ (siehe auch ‚Kapitel 10‘). Ohne sie sind die Lerner einer Fremdsprache entsprechenden Situationen mündlicher Kommunikation relativ hilflos ausgeliefert. Das Wissen darüber, wie mündliche bzw. nähesprachliche Kommunikation funktioniert, und welche spezifischen Ausdruckformen und Strukturen vermittelt werden müssen, um bei den Lernern entsprechende Kompetenzen zu fördern, sollte folglich auch zum obligatorischen Bestandteil des ‚Portugiesisch als Fremdspracheunterricht‘ gehören. Der vorliegende Beitrag liefert das hierfür notwenige linguistische Grundwissen.
2. Zur Situation der Gesprochenen-Sprache-Forschung in Portugal und Brasilien
Im Folgenden skizziere ich meine Einschätzung der Forschungslage zur gesprochenen Sprache in Portugal und Brasilien. Dazu gehört die Darstellung von zentralen Forschungszentren und Projekten in Portugal und Brasilien, sowie eine Beschreibung von Tendenzen, Schwerpunkten und Desideraten, die sich in der mir bekannten Forschungsliteratur zum Thema benennen lassen. Gemessen an diesem hohen Anspruch – eine entsprechende umfassende Recherche und Beschreibung bedürfte eines eigenen Projekts und Veröffentlichung – möchte ich den zusammenfassenden und vorläufigen Charakter der folgenden Ausführungen herausstellen.
In Relation zu den die übrigen Teilen dieses Buches handelt es sich bei diesem Kapitel um einen ‚Exkurs‘. In ihm wird ein Thema erörtert, das eigentlich außerhalb des restlichen, ‚systematischen‘ Teil dieses Buches steht.
In Portugal ist das Centro de Línguas da Universidade de Lisboa 1 (CLUL) die wichtigste Institution, die sich u.a. mit der Erforschung der gesprochenen Sprache beschäftigt. Besonders hinsichtlich der Zurverfügungstellung von geeigneten Korpora und Transkriptionen bietet dieses Zentrum eine gute Ausgangsposition für weiterführende Forschungen zum gesprochenen Portugiesisch. Die Korpora, von denen ich im Folgenden einige vorstelle, zeichnen sich durch ihren Umfang und durch ihre teilweise ‚On-line‘ Verfügbarkeit aus:
(a) 1987 wurde das Korpus „ Português Fundamental. Métodos e Documentos “ veröffentlicht, das insgesamt 140 transkribierte Interviews enthält. Das zugrunde liegende Projekt datiert zurück auf 1970, in einer Zeit, in der es der Leitung des renommierten Sprachwissenschaftlers Luís Filipe Lindley Cintra unterstand. Es hatte sich zum Ziel gesetzt, spontan gesprochene Alltagsgespräche aufzunehmen und zu transkribieren. Im Zuge dieses Projekts wurden zwischen 1971 und 1974 insgesamt 1800 Gespräche aufgenommen. Von diesen wurden schließlich 1400 ausgewählt und transkribiert. Sie bilden das genannten ‚ Corpus Português Fundamental = PF‘. Als Grundlage für alle Interviews diente eine Reihe von Standardfragen, die allen Gewährspersonen gestellt wurden. Bacelar do Nascimento et al. veröffentlichten aus diesem Material 1987 schließlich ein Buch mit 140 transkribierten Interviews, zu dem auch ein ‚On-line‘ Zugang besteht2. Es handelt sich um „ transcrições “3 mit einigen Zusatzinformationen zu den beteiligten Gewährpersonen wie ‚Geschlecht‘ und ‚Herkunft‘. Eine neue Version des Korpus steht unentgeltlich im Catálogo da ELRA 4 zur Verfügung. Sie umfasst Audiofiles im WAV-Format und einfache orthographische Transkriptionen im TXT- und HTML-Format.
(b) 2001 erschien auf CD-ROM das Korpus „ Português Falado – Documentos Autênticos: Gravações Áudio em transcrições alinhadas (Instituto Camões 1995 bis 1997)5. Es waren die portugiesischen Sprachwissenschaftler Malaca Casteleiro und Maria F. Bacelar do Nascimento, unter deren Leitung dieses Projekt organisiert wurde. Das Ziel bestand darin, einen kleinen aber repräsentativen Korpus zusammenzustellen, um eine Grundlage für weitere Studien zum gesprochenen Portugiesisch in allen Regionen der Welt, in denen Portugiesisch gesprochen wird, zu erhalten. Aus den ursprünglich im Laufe dieses Projektes unter Beteiligung von 94 Gewährspersonen gesammelten Daten wurde eine Reihe von Transskripten ausgewählt, die das gesprochene Portugiesisch in Portugal, Brasilien und den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Afrika (Angola, die Kapverden, São Tomé, Príncipe und Mozambique) repräsentiert. Auch Sprachproben aus Goa, Macau und Osttimor wurden nachträglich diesem Korpus hinzugefügt. Die Kennzeichnung dieses Korpus mittels des Attributs transcrições alinhadas besagt, dass dieses Korpus Angaben zu Pausen, Unterbrechungen wie Räuspern, unverständlichen Wiederholungen und außerhalb des eigentlichen sprachlichen Codes liegenden Lauten etc. mit einschließt. Aber wie bereits bei den ‚PF-Transkriptionen‘ wurden umgangssprachliche oder phonetisch bedingte Varianten und Abweichungen ‚geglättet‘ und der Standardorthographie angepasst. Um diese Varianten identifizieren zu können, ist eine zusätzliche Konsultation der vorhandenen Audiofiles notwendig. Wie bereits beim ‚PF-Korpus‘ steht auch eine neue Version dieses Korpus unentgeltlich im Catálogo da ELRA 6 zur Verfügung. Sie umfasst Audiofiles im WAV-Format und einfache orthographische Transkriptionen im TXT- und HTML-Format.
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