Dann, so um die Mitte des 18. Jahrhunderts, holte das Denken die Veränderungen der Wirklichkeit seit etwa 1500 ein. Damals wurde zum ersten Mal die Zeitlichkeit der Welt systematisch bedacht. Dass es bereits in der Antike eine blühende Geschichtsschreibung gab, spricht nicht gegen diese Behauptung. Mit Bewusstsein der Zeitlichkeit oder gar mit Geschichtsbewusstsein ist mehr gemeint als die Kenntnis der historischen Fakten, mehr auch als die Reflexion auf die Prinzipien der geschichtlichen Entwicklung, auf den Sinn der Geschichte. Vielmehr ist historisches Bewusstsein das Verständnis seiner selbst und der Welt, in der man lebt, als geschichtlich geworden. Die Begriffe Vergangenheit und Gegenwart werden dabei zu Komplementärbegriffen. Geschichte gilt einerseits nicht mehr naiv als zurückliegende Gegenwart, aber auch andererseits nicht mehr antiquarisch als von der Gegenwart wie durch einen Abgrund getrennt; vielmehr gilt Geschichte als Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei die Vergangenheit vor allem wegen ihres Bezugs zur Gegenwart interessiert und die Gegenwart nicht zuletzt in ihrem Bezug zur Vergangenheit verständlich erscheint. Wenn, so sagt Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode , etwa Herodot oder Plutarch das Auf und Ab der menschlichen Geschichte durchaus zu beschreiben wussten, dann doch, ohne auf die Geschichte der eigenen Gegenwart und die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins schlechthin zu reflektieren.1 Diese naive Distanzlosigkeit gegenüber der Geschichte zeigt sich am sinnfälligsten vielleicht in Gemälden des Mittelalters und der Renaissance. Ein Beispiel ist etwa die Miniatur „Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“ der Brüder Limburg aus dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (geschaffen von 1413 bis 1416).2 Die Kunsthistoriker heben durchaus hervor, wie sorgfältig die Brüder Limburg exotisches Kolorit anbrachten, wie ihre Malerei die durch die Kreuzzüge erweiterten Kenntnisse ethnischer und kultureller Verschiedenheit an den Tag legt.3 Und doch ist Melchior, der des Jesuskindes Füße küsst, wie der byzantinische Kaiser Manuel II. Palaiologos gekleidet; die Gefolgsleute der drei Könige tragen Turbane, als seien sie bereits Muslime; die Frauen hinter Maria gleichen hochmittelalterlichen Zofen; und über dem Geschehen des Jahres Eins erhebt sich die Silhouette des gotischen Bourges, der Hauptstadt des Berry, mit der Grosse Tour, der mächtigen Kathedrale und der Turmspitze der Sainte Chapelle.
Aber – um in die Literatur und in eine spätere Zeit zu wechseln – noch die Anachronismen William Shakespeares sind berühmt. Da gibt es Hinweise auf Aristoteles in Troilus and Cressida , das doch zur Zeit des Trojanischen Krieges spielt; in Coriolanus , angesiedelt im alten Rom, wird auf die Rosenkriege und auf Brillen angespielt; und in anderen Stücken gibt es im antiken Rom und Ephesus sowie in Altbritannien läutende Glocken, die doch eine Erfindung des 14. Jahrhunderts sind. Selbstverständlich ist das für die Kunst Shakespeares gleichgültig, ja bei genauerem Durchdenken der Sache ist der Anachronismus-Vorwurf sogar geradezu abgründig: man bedenke bloß, dass der wichtigste, weil ganze Werke durchwirkende Anachronismus bei Shakespeare der Gebrauch der frühneuenglischen Sprache durch alte Griechen, Römer und Ägypter ist … Und auch das Wort von der naiven Distanzlosigkeit der Brüder Limburg gegenüber der Vergangenheit ist nicht als Vorwurf oder gar als ästhetische Kritik gemeint. Ein solcher Vorwurf wäre seinerseits wieder unhistorisch, denn die anachronistische Darstellung der Geburt des Heilands kann interpretiert werden als Zeichen von deren Singularität und Geschichtsenthobenheit.
Ist der Anachronismus-Vorwurf letztlich ästhetisch töricht, so ist jedoch interessant, dass er – mitsamt dem Begriff Anachronismus selbst – charakteristischerweise zur Zeit der verschiedenen europäischen Neo-Klassiken bzw. Klassizismen entsteht. In dieser Kulturepoche wird die früher weithin herrschende Distanzlosigkeit gegenüber der Vergangenheit abgelöst durch eine Verabsolutierung der Gesetze und Regeln der Vergangenheit, sprich der antiken Kultur. Vor allem im Bereich der Literatur werden Homer und Vergil, Pindar und Horaz, Sophokles und Seneca zur Norm.
Will man die naive Distanzlosigkeit des europäischen Mittelalters und der englischen Renaissance im Umgang mit der Geschichte mit großen Worten belegen, so könnte man von falscher „Aktualisierung“ und von „Präsentismus“ sprechen; im Fall der gelehrten oder kleinmütigen Verabsolutierung der Antike in der Klassizistik müsste man von „antiquarischem Akademismus“ reden. Beide Richtungen werden der Dialektik von Geschichte und Gegenwart nicht gerecht.
Die Herausbildung des Verständnisses dieser Dialektik soll nun im folgenden nachgezeichnet werden, notwendigerweise in Auswahl4 und in aller Kürze. Es gibt jedoch Wissenschaftstheoretiker, die diesen Prozess die tiefgreifendste Umwandlung im menschlichen Denken überhaupt nennen.5
2. Richard Hurd und die Historisierung des ästhetischen Geschmacks
Das Prinzip des historischen Denkens wurde anhand von Kunstwerken entdeckt, und die Entdeckung verbreitete sich von dort aus in den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften, schließlich auch in wichtige Bereiche der Naturwissenschaften hinein.
Wir Deutschen sind geneigt, die Entdeckung Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) zuzuschreiben, und wenn der Vorgang symbolisch auf einen Moment zusammengezogen werden sollte, dann würden wir wahrscheinlich Goethes Begeisterung für das Straßburger Münster 1770 nennen, als er, in den Worten Friedrich Meineckes, „das Eigengesetz und den Eigenwert der Gotik entdeckt hat.“6
Tatsächlich jedoch war es ein Engländer, der in einer bei uns fast unbekannten Schrift zehn Jahre zuvor zum ersten Mal die Kunstwerke der Gotik und des Mittelalters aus sich heraus zu begreifen unternahm und damit die historische Perspektive in die Literaturwissenschaft und in die Wissenschaften allgemein einführte: Bischof Richard Hurd (1720-1808) in seinen Letters of Chivalry and Romance (1762), einem Traktat in Form von zwölf Briefen an einen nicht näher bezeichneten Freund.7 – Hurd setzt ein mit der Frage, ob die (von der Aufklärung inaugurierte bzw. geförderte) abschätzige Bewertung des „gotischen“ Mittelalters gerechtfertigt sei. (Allein aus dem – sachlich ja ganz unzutreffenden – Wort gotisch geht schon hervor, dass man sich diese Zeiten barbarisch und unzivilisiert vorstellte.) Wenn man nämlich genauer hinschaue, so Hurd, dann erkenne man auch in diesen auf den ersten Blick so fremden Kulturleistungen Sinn und Zusammenhang. So lässt sich nach Hurd das zunächst tatsächlich fremd anmutende Ritterwesen mit seinen seltsamen Turnieren vor dem Hintergrund der damaligen Feudalordnung sehr wohl verstehen. In derselben Weise der Ableitung des kulturellen Überbaus von der materiellen Basis erklärt er im weiteren das, was wir das ‚ritterliche Tugendsystem‘ nennen würden: den Kreuzzugsgedanken und die höfische Liebe vor allem. Sodann vergleicht Hurd die Taten der fahrenden Ritter mit denen der Helden Homers, angesichts der Wertschätzung des antiken Griechenlands ein brisanter und herausfordernder Gedanke, der das Mittelalter in den Augen seiner aufgeklärten Zeitgenossen gewissermaßen salonfähig machen sollte. Wenn man, so argumentiert der Bischof, über die Riesen und Drachen der mittelalterlichen Literatur hochmütig lächelt, warum dann nicht auch über Homers Götter und Halbgötter? Und wo wirklich Unterschiede zwischen den antiken Heroen und den mittelalterlichen Rittern bestehen, wie zum Beispiel in der Religion und im Kampfverhalten, da erklärt Hurd diese Differenzen mit den unterschiedlichen sozio-politischen Bedingungen der beiden Zeitalter. Dann folgt eine Erörterung von Dichtern wie Homer, Shakespeare, Ariost, Tasso, Spenser und Milton, wobei Hurd auch hier versucht, diese von einem „aufgeklärten“ klassizistischen Standpunkt aus gering geachteten Dichter als große Künstler aufzuwerten; ja, er geht sogar noch weiter und legt dar, dass gotisch geradezu ein Synonym für poetisch ist und dass die genannten Autoren in einem höheren Sinn poetisch sind als die kanonischen Autoren des klassizistischen Geschmacks.
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