Christiane Fäcke / Franz-Joseph Meißner
Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
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ISBN 978-3-8233-8200-3 (Print)
ISBN 978-3-8233-0187-5 (ePub)
Einleitung
1. Begriffsdefinitionen
1.1. Vielsprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Mehrsprachigkeitsdidaktik
Mehrsprachigkeit MehrsprachigkeitBegriff (↗ Art. 6, 7) ist sowohl ein Dachbegriff oder umbrella-term , der unterschiedliche Konzepte und Referenzkontexte versammelt, als auch ein Bewegungsbegriff, der Menschen auf ein Ziel hin mobilisiert. Zugleich handelt es sich um einen Kernbegriff der EU-Sprachenpolitik (↗ Art. 12)Sprachenpolitik der EU; nicht zuletzt als Ausdruck ihrer aus 24 Amtssprachen bestehenden Vielsprachigkeit. Zurzeit bestehen EU-weit drei große Tendenzen: Erstens, Englisch als internationale Sprache zu nutzen und zweitens, neben den Muttersprachen mindestens zwei Sprachen der EU (darunter Englisch) als eine Art mehrsprachiges Minimummehrsprachiges Minimum möglichst weit in der EU-Bevölkerung zu etablieren. Hierneben steht drittens weiterhin die Pflege der MuttersprachenMuttersprachen, mit denen sich nationale Identitäten (↗ Art. 1) verbinden. Die geschilderte Ausrichtung wird allerdings der Vielfältigkeit der europäischen Sprachenlandschaft noch nicht gerecht, was schon die Existenz von Verlautbarungen der EU zugunsten der angestammten regionalen Sprachen und Varietäten signalisiert. Wurden zu deren Schutz internationale und europäische Regelungen getroffen, so nur ansatzweise zu den MigrantensprachenMigrantensprachen auf dem Territorium der Union. Dabei übersteigt die Zahl der Teilhaber einer migrantischen Sprache manchmal erheblich die autochthoner Sprachgruppen. Indes ist es keine Frage, dass die Vielsprachigkeit Europas mit dem Appell einhergeht, die individuelle Mehrsprachigkeit – differenziert und abgestuft – zu fördern (↗ Art. 9).
Was den Appell zum Ausbau der (individuellen) Mehrsprachigkeit angeht, so kommen die Befunde der empirischen Fremdsprachenforschung und der Lernpsychologie (↗ Art. 51) hinzu: Sie betonen neben der Relevanz der lernerseitigen Motivation nahezu einhellig die Nutzung des lernrelevanten Vorwissens für erfolgreiches Lernen (nicht nur von Sprachen). Die hohe Konjunktur des Begriffs interkulturelles Lernen (Fäcke 2005) zeigt ein Weiteres: In einem zusammenwachsenden Europa in einer globalisierten Welt sind ethnische und kulturelle DiversitätDiversitätkulturelle eine Alltagserfahrung, die sich mit VielsprachigkeitVielsprachigkeit und MultikulturalitätMultikulturalität verbindet. Dies stellt hohe Anforderungen an die angestammte Bevölkerung, Fremdheiten zu akzeptieren und aushalten zu wollen. Zugleich wird von Minderheiten der Wille zur Anpassung an die Standards der Mehrheitsbevölkerung verlangt (↗ Art. 15). Ziel ist, Andersheit nicht als Bedrohung für das eigene Selbst und das überkommene kollektive Wir, sondern als Bereicherung erscheinen zu lassen. Eine differenzierte individuelle Mehrsprachigkeit gepaart mit interkultureller Kompetenz, insbesondere Sensibilität für unterschiedliche Erscheinungsformen von Fremdheit, interkulturelle Kompetenz sind vor diesem Szenario Strategien und Mittel zugleich, um den Herausforderungen zu begegnen.
Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit Vielsprachigkeitim Unterschied zu Mehrsprachigkeit meinen nicht dasselbe. Der Begriff Vielsprachigkeit bezeichnet als echter Kollektivsingular alle Sprachen, die auf einem definierten Territorium, z.B. einem Staatsgebiet, begegnen. In Deutschland sind dies weit über hundert. Vielsprachigkeit oder Multilinguismus ist vor allem Folge von Migration. All dies impliziert, dass das Profil von Vielsprachigkeit nur schwer konkretisierbar und kaum planbar ist. Mit Mehrsprachigkeit ( plurilinguism ) meint die EU i.d.R. die Sprachen von Individuen. Im Rahmen von Mehrsprachigkeit ist die Förderung konkreter Fremdsprachen durch schulischen Unterricht möglich. Zugleich verbreitet das SchulsprachenangebotSchulsprachenangebot bestimmte MehrsprachigkeitsprofileMehrsprachigkeitsprofile. Allerdings durchbrechen zahlreiche sprachenpolitische Publikationen in verschiedenen Sprachen die semantische Komplementarität von Viel- und Mehrsprachigkeit.
Die umrissene Gemengelage allein erklärt schon den vielleicht wichtigsten Grund für die Entstehung sprachenübergreifender Didaktiken. So fassen Mehrsprachigkeits - und Mehrkulturalitätsdidaktik (↗ Art. 7, 8) als komplementäre Großbegriffe eine Anzahl von Nachbar- oder Unterbegriffen: integrierte oder integrative Didaktikintegrative Didaktik, Gesamtsprachencurriculum oderGesamtsprachencurriculum Common Curriculum , vernetzendes Sprachenlernenvernetzendes Sprachenlernen, éveil aux langues, interkomprehensiv basierter Ansatzéveil aux langues und interkulturelles Lerneninterkulturelles Lernen (mit verschiedenen Schattierungen). Ihrer Verbreitung kommt selbstverständlich ihre kognatische Internationalität zustatten ( didactique du plurilinguisme didactique du plurilinguisme , didactique du pluriculturalisme didactique du pluriculturalisme , didactics of plurilingualism, didactics of pluriculturalism ). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die von der EU geprägten programmatischen Termini auf ein von Kommunikationsraum zu Kommunikationsraum unterschiedliches Bedingungsgefüge treffen, das ihre Bedeutung in gewissen Grenzen auch hinsichtlich der jeweiligen nationalen Umsetzung verändert (Meißner & Schröder-Sura 2014).
Über viele Jahrzehnte hinweg wurden die Begriffe Zweisprachigkeit Zweisprachigkeitechte ( bilingualism, bilinguisme ) und in mitgedachter Verlängerung Mehrsprachigkeit Mehrsprachigkeitechte ( plurilingualism, plurilinguisme ) negativ konnotiert. Man unterstellte fälschlicherweise, dass ‚echte‘ Zwei- oder Mehrsprachigkeit, was das Kompetenzniveau der Sprachen angeht, spiegelbildliche Kompetenzmuster in zwei bzw. mehreren Sprachen bedeuten müsse. Die Definition ist schon deshalb zu verwerfen, weil jede Sprache ein Zeichenrepertoire eigener Art darstellt, das dem einer anderen Sprache nie vollständig entsprechen kann. Zudem ist es kaum einem Individuum möglich, jederzeit in gleicher Intensität an allen Themen unterschiedlicher Kommunikationsräume zu partizipieren. Deshalb zeigen auch die IdiolekteIdiolekte konkreter Sprecher in ein und derselben Sprache keine deckungsgleichen Kompetenzmuster.
In den Sprach- und Erziehungswissenschaften wurde Zweisprachigkeit – und in der Verlängerung Mehrsprachigkeit –Mehrsprachigkeit oft mit einer sog. „doppelten Halbsprachigkeit“doppelte Halbsprachigkeit in Verbindung gebracht: Man meinte generalisierend, dass früher Zweisprachenerwerb weder zu einer hinreichenden Beherrschung der einen noch der anderen Sprache führe. Das Defizit wird noch heutzutage genannt (Wolski & Dralle 2019: 469). Jüngere Befunde unterschiedlicher Wissenschaften unterstreichen indes, dass der Begriff schon deshalb falsch fasst, weil er von einem monolingualen Kompetenzprofil und SprachenwachstumSprachenwachstum ausgeht (vgl. Wiese et al. o.J). Pädagogisch komme es in der Tat weniger auf die Defizite an als darauf, vorhandene Kompetenzressourcen zu nutzen. Defizite sollten, so die Aussage, durch gezielte Förderung behoben werden. Eine pädagogische Orientierung liefern die ‚Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht‘. In der von Bertrand & H. Christ koordinierten Fassung heißt es, dass:
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