Die Auflösung althergebrachter Vorstellungen von Familialität sowie der Wunsch nach egalitären Verbindungen bedingen nun Familienkonzeptionen, die sich nicht mehr biologisch aus sich selbst heraus rechtfertigen, sondern gerade willentlich gestaltet werden. Mediale Darbietungen illustrieren die Viabilität dieser neuen Formen der Verwandtschaft.
Im Kontext der Sozialisation von Verbindungen ist wohl auch jüngst das Buch Ziemlich feste Freunde. Warum der Freundeskreis heute die bessere Familie ist von Susanne Lang erschienen. Darin ist der Freundschaft ein zukünftiges Versicherungskonzept eingeschrieben:
»So gesehen sind Freundschaften eine der größten Investitionen, die wir künftig eingehen werden – und eine der erstrebenswertesten. […] Ich sorge mit der Pflege meiner Freundschaften für ein ebenso gutes Zukunftsfundament wie mit meiner Riester-Rente. Denn vor allem für das Alter, so lautet eine der großen Gesellschaftsprognosen, würden gute, langjährige Sozialkontakte immer wichtiger.«72
Daneben zeugen die zahlreichen neuen Reproduktionstechnologien allerdings auch vom großen Wunsch nach dem eigenen Kind. Der Wunsch nach einem (biologischen) Kind manifestiert sich je nach Konstellation unterschiedlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass »[d]urch das neue Angebot ›Reproduktionsmedizin‹ […] möglicherweise eine sinkende Bereitschaft ungewollt kinderloser Paare zur Adoption plausibel [wird]«73.
Am 7. Januar 2016 tritt in Deutschland die geänderte Bundesförderrichtlinie in Kraft, gemäß der »erstmals auch unverheiratete Paare für reproduktionsmedizinische Behandlungen eine finanzielle Unterstützung durch das Bundesfamilienministerium [erhalten]«74. An jenem durchaus historisch zu nennenden Tag stellt Manuela Schwesig auf ihre Facebook -Seite eine Abbildung, welche eine klassische (Vater, Mutter, Kind) und zugleich neuartig-technologische Familienkomposition in Bild und Schrift (»Wir wollen allen Paaren die Möglichkeit geben, sich den Wunsch nach einem eigenen Kind zu erfüllen, egal ob verheiratet oder unverheiratet.«75) zitiert. Den Eltern steht das Glück buchstäblich ins Gesicht geschrieben, Familie erscheint als distinkter und ästhetischer Verbund, wobei zwischen Mutter und Baby ein inniger Augenblick festgehalten wird. Der Kind und Mutter umfassende Arm des Vaters fungiert als Schutzschild und Bewahrer des Verbunds, in dem somit Mutter und Kind regelrecht eingeschachtelt sind. Die Abbildung entfaltet ein Familienszenario, indem eine tolerante Erweiterung von Familialität suggeriert (alle Paare, Gleichgültigkeit gegenüber einer rechtlichen Verankerung) und gleichzeitig verengend wieder zurückgenommen wird, denn Familie ist – so der ›Subtext‹ des Bildes – eben doch ausschließlich Vater, Mutter und das eigene Kind.
Kurze Zeit später erscheint ein kritischer Kommentar auf Facebook , der Familialität und duale Elternschaft entkoppelt:
»Frau Schwesig, das ist ein guter Ansatz, aber dass in Deutschland immer noch Familienglück an eine Partnerschaft gebunden ist, ist ein Armutszeugnis! Auch alleinstehenden Frauen sollte das Recht auf künstliche Befruchtung gewährt werden. Aber da sieht man mal wieder, dass Deutschland immer noch in der Steinzeit tickt!«
Ferner ist ein Kommentar zu lesen, der die Fokussierung auf Heterosexualität kritisiert:
»Alle Paare? Nein, natürlich nicht. Homosexuelle unverheiratete Paare (die gar nicht heiraten dürfen) sind natürlich wieder ausgenommen.«
Die beiden Facebook-Kommentare beanstanden mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung (alleinstehende Frauen; homosexuelle Paare) den gesellschaftlich-politischen Ausschluss bestimmter Gruppen. Interessant ist dabei, dass sowohl die Abbildung des Bundesministeriums für Familie, Senioren , Frauen und Jugend als auch die kritischen Facebook-Kommentare an der gleichen Logik partizipieren. Der Mechanismus der Erweiterung und Öffnung des adressierten Personenkreises ist jeweils verflochten mit einer Beschränkung von Familialität auf ausschließlich das (biologisch) eigene Kind. Mit Schaffer ist von der Existenz »hegemonialer Repräsentationsformen und -grammatiken«76 auszugehen und zu erkunden, »was überhaupt denkbar, sagbar und daher anschaulich ist in dieser Ordnung [gemeint ist die Episteme im Sinne Foucaults, M.P.].«77 Ihre Arbeit basiert auf der Annahme »der Notwendigkeit einer Analyse der Bedingungen der Sichtbarkeit.«78
Die neuen Reproduktionstechnologien lassen sich hinsichtlich ihres Verhältnisses zu gesellschaftlichen Normen nicht eindeutig bestimmen: »Die neuen Reproduktionstechnologien stabilisieren auf der einen Seite gängige Normen – des Kinderkriegens, der Blutsverwandtschaft, der Heterosexualität etc. –, auf der anderen Seite unterlaufen sie diese (wie z.B. die Vorstellung der Kindeszeugung in einer Liebesnacht ohne technische Hilfe).«79
Auszugehen ist also mit Bergmann von einem »Spannungsverhältnis zwischen den aktiven, denaturalisierenden, alternativen und queeren Praktiken des Verwandtschaftmachens und einem biogenetischen Verständnis von Verwandtschaft, in dem das Wissen von und um Verwandtschaft durch den Code der Substanz beschrieben wird«80. Pointiert resümiert er: »Der Prozess, Verwandtschaft zu machen , wird gespiegelt von einer strukturierenden Praxis, Verwandtschaft zu sein .«81 Prozedurale und substantielle Verwandtschaftspraxen sind demnach miteinander verflochten.
Die Reportage Das Geschäft mit Social Freezing (von Christiane Hawranek und Lisa Schurr, ausgestrahlt am 24.03.2015, ARD) von Report München (Deutschland 1962-, Bayerischer Rundfunk; TV (ARD)) problematisiert facettenreich Risiken und Chancen dieser Technologie. Dargeboten werden Motive und Hintergründe, also Beweggründe von Frauen, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Ist einmal die Existenz der Reproduktionsmedizin akzeptiert, dann erscheint ihre Einordnung interessant. Der Kommentator der Reportage informiert über eine Social-Freezing-Patientin: »Am liebsten würde sie aber trotz der eingefrorenen Eizellen auf natürlichem Wege schwanger werden« (00:05:43). Die Kategorien Natur und Technik werden deutlich geschieden. Demnach gäbe es eine natürliche Geburt und eine technische Geburt. Die Konkurrenz zwischen natürlicher und künstlicher Geburt, der Glaube an die Existenz zweier völlig unterschiedlicher Konzepte ist hyperpräsent.
In dem Roman Lasse (2015) von Verena Friederike Hasel werden (personell und methodisch) natürliche Geburt und Kaiserschnitt dichotomisch arrangiert:
»Und deshalb hat meine Beleghebamme mich auch gewarnt vor den Ärzten. Selbst in ihrer fortschrittlichen Klinik herrsche ein wahrer Sektiowahn, hat sie gesagt, und wer sich nicht in Acht nehme, erlebe nicht das Wunder einer natürlichen Geburt, sondern lande unterm Messer.«82
Ein auf der Titelseite der ZEIT am 23. Oktober 2014 angekündigter Artikel Dürfen Firmen Familien planen? , der im Kontext einer lebhaft geführten Debatte um Social Freezing entstand83, reproduziert ebenso die Natur-Technik-Dichotomie: »Heute ist Frauke Holtmann 41 Jahre alt, hat einen neuen Partner, mit dem sie Kinder haben möchte. Aber auf natürlichem Wege hat es nicht geklappt.«84
Wenn ich in meiner Studie beispielsweise von Natürlichkeit , Gesundheit , Krankheit oder Behinderung spreche, dann gehe ich stets davon aus, dass es sich um gesellschaftliche Zuschreibungen und Kategorisierungen handelt. Eine durchgängige Kursivierung dieser historischen Kategorien würde die Lesefreundlichkeit massiv einschränken. Die Kursivierung wird daher in den einzelnen Fällen unterschiedlich gehandhabt. Davon abgesehen wird insbesondere dort, wo die illokutive Qualität solcher Ausdrücke im Sinne eines zitierenden Handelns als geklärt gelten darf.
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