In der vorliegenden Arbeit interessieren diejenigen familienpolitischen Manifestationen in unserer Medienkultur, die ostentativ facettenreiche (insofern im weiten Sinne zu verstehende) Konnotationen der Kategorien Natur und Kultur/Technik arrangieren. Butler macht innerhalb eines dekonstruktivistischen Argumentationsgangs in Körper von Gewicht deutlich, dass ein identitär-problematischer Begriff oder eine ebensolche Kategorie – zu nennen wäre hier nicht zuletzt der Begriff oder die Kategorie Natur 85 – weder einseitig verbannt, noch unreflektiert verwendet werden sollte:
»Daß der Begriff fragwürdig ist, bedeutet nicht, daß wir ihn nicht gebrauchen dürfen, aber die Notwendigkeit, ihn zu verwenden, bedeutet auch wiederum nicht, daß wir nicht andauernd die Ausschlüsse befragen müssen, mit denen er vorgeht, und wir haben dies genau deshalb zu tun, damit wir lernen, wie die Kontingenz des politischen Signifikanten in einer Kultur demokratischer Auseinandersetzung zu leben ist.«86
Butlers Ansatz sieht also gerade nicht die Vermeidung identitär-problematischer Begriffe vor, sondern dessen Befragung auf ihr exklusives Potenzial hin, wobei zu berücksichtigen ist, dass Butler Materie nicht als rein diskursives Konstrukt versteht87.
Mit Blick auf die vorliegende Arbeit wird die Berücksichtigung der Medienkulturwissenschaft bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik gefordert und realisiert . Diese Forderung lässt sich freilich etwas schlichter formulieren: Es wird gezeigt – so das Hauptanliegen dieser Arbeit – wie wichtig die Berücksichtigung medienkulturwissenschaftlicher Problematisierungen bei Fragen rund um unsere gegenwärtige Familienpolitik ist.
Eingedenk der omnipräsenten kommunikativen Auseinandersetzung mit Reproduktionsmedizin (die oben zitierten Ausführungen von Manuela Schwesig und die Kommentare führen es vor), erscheint die medienkulturwissenschaftliche Fokussierung umso virulenter, denn Humanwissenschaften – so Claus Dahlmanns im Rekurs auf Foucault – »verbleiben im Grunde im Feld der klassischen Episteme der Repräsentation, ohne die erkenntnistheoretischen Konsequenzen und Problemstellungen zu verarbeiten, welche die Philosophie seit Kant aufgeworfen hat.«88 Allgemeinverbindliche und eindeutige, universelle Repräsentationen von Familienpolitik kann es nicht geben und gibt es auch nicht. Zu zeigen, wie sich jedoch die vielfältigen Familienpolitiken in unserer gegenwärtigen Medienkultur manifestieren, ist Teil der nun folgenden Untersuchung.
Die einzelnen Kapitel zeichnen nicht chronologisch die verschiedenen Phasen einer Familiengründung nach. Diese Entscheidung lässt sich hinreichend legitimieren, denn Familialität der Gegenwart lässt sich aus sich selbst heraus in kein intrinsisch-chronologisches Phasenmodell einbetten. Aus der wissenschaftlichen Perspektive soll daher auch keine Domestizierung erwirkt werden. Kapitel 3, 4 und 5 sind insofern miteinander verbunden, als sie jeweils problemorientiert und kritisch einen Schwerpunkt von Familialität der Gegenwart zeigen, nämlich familientechnologische Gesundheitsmelancholie (Kapitel 3), ostentative Diversität (Kapitel 4) und Familienkonflikte (Kapitel 5). Der Gliederung ist eine argumentative Struktur inhärent, die sich vom allgemein Diskursiven über ein spezielles Diskursphänomen hin zum konkreten Beispiel entfaltet. Im folgenden Absatz werden die einzelnen Kapitel sowie die zentralen Thesen vorgestellt.
Kapitel 1 gibt einen umfassenden Forschungsüberblick, um darauf aufbauend die eigene Fragestellung verorten zu können. Es ist wichtig, darauf zu verweisen, dass »[k]ein Buch über Elternschaft […] unpersönlich geschrieben werden [kann]«89. Teilhabe kann im Diskurs über Elternschaft nicht nicht heraustreten. Involviertheit erscheint somit virulent auf der Ebene der Autorin, anderer Diskursteilnehmer_innen, die als wissenschaftliche Stimmen rezipiert werden, und der Rezipient_innen der vorliegenden Arbeit.
Kapitel 2 präzisiert die der Arbeit zugrunde liegende Methodologie. Dabei wird eine mediensyntagmatische Herangehensweise gewählt, die durch diskursanalytische Werkzeuge ergänzt wird.
Kapitel 3 entfaltet über mehrere Schritte, aufbauend auf der Studie von Bruner und den Disability Studies sowie auf Butlers Konzept der Geschlechtermelancholie, die These, dass wir uns gegenwärtig in einer familientechnologischen Gesundheitsmelancholie befinden. Im deutlichen Rekurs auf die Dokumentation Der Traum vom perfekten Kind von Patrick Hünerfeld, jedoch auch abstrahierend davon, durch zusätzliche beispielorientierte Heranziehung weiterer »Medienangebote«90 (Siegfried J. Schmidt), werden problematisierte diskursive Elemente im Umfeld von Pränataldiagnostik und Familienpolitik herausgearbeitet und über Deskription hinausgehend in einen größeren medienkulturellen Kontext gestellt. Bei aller Pluralität der Vorstellungen und Entwürfe rund um Schwangerschaft ist der Wunsch nach Gesundheit, also derjenigen Gesundheit, die über basales Wohlergehen hinausgeht und nicht selten mit Perfektion (so suggeriert es der Titel Der Traum vom perfekten Kind ) verwechselt wird, als einendes, die gesamte Elternschaft betreffendes Moment artikuliert (Unterkapitel 3.1). In Differenz zu bekannten Narrationen, in denen die Exklusivität des Eigenen stolz und abgrenzend betont wird, erscheint die Artikulation des natürlichen Wunsches nach Gesundheit des Kindes als elterngemeinschaftliche Universalie konstruiert. Universalität wird aber dennoch nicht eingelöst. Es werden parallel diskursive Elemente dargeboten, die Eindeutigkeit, Klarheit im Umfeld von Pränataldiagnostik drastisch unterlaufen. Aus diesem Grund werden ferner Argumentationsfiguren und Begründungszusammenhänge im Umfeld pränataler Diagnostik untersucht (Unterkapitel 3.2). Was bedeutet es nun aber, wenn vielerorts – sowohl wissenschaftlich in der Forschungsliteratur und praktisch in zahlreichen konkreten Beispielen – Unsicherheit integriert und kommuniziert ist? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst unterschiedliche Konfigurationen familienpolitischer Unsicherheit in unserer Medienkultur herauspräpariert (Unterkapitel 3.3). Anschließend werden die vielfältig zusammenspielenden Kategorien Unsicherheit , Schuld , Ich-Verarmung , Narzissmus und Schamlosigkeit in unserer Medienkultur gemeinsam in Anschlag gebracht (Unterkapitel 3.4). In Anlehnung an den diskursanalytischen Untersuchungsstil Foucaults91 kann gefolgert werden: Mütter und Väter verweilen in der Rolle von Gesundheitsminister_innen . Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie selbstidentisch die Reziprozität zwischen Gesundheit und Krankheit verdrängen. Dieser Verdrängungsprozess ist unbetrauerbar und politisch. Wie begründet sich aber die Verwendung des Begriffs Gesundheitsminister_innen ? Minister_innen sind erstens Leiter_innen eines eigenständigen Geschäftsbereichs sowie einem übergeordneten Verbund (beispielsweise dem Bundestag) zugehörig und gegenüber diesem auch verantwortlich. Im Französischen und Englischen ist zweitens eine Verbindung zum religiösen Bereich vorhanden. Der ministre du culte und der minister sind Priester, Seelsorger, kurz Geistliche. Das Verb to minister bedeutet gerade dienen, betreuen oder einen Gottesdienst abhalten. Gesundheitsminister_innen üben demnach wie die Regierungsmitglieder eine (gesundheitliche) Führungsaufgabe aus und sind gleichzeitig einem übergeordneten Ganzen, nämlich den Gesundheitsidealen der Zeit, verpflichtet und verantwortlich. Wie die Priester betreiben sie Fürsorge und Betreuungsarbeit. Dabei dienen sie gleichzeitig einer autoritären Instanz respektive einem nicht zu hinterfragenden Ideal. Zudem sind sie Repräsentant_innen dieses Ideals und halten Gesundheitsdienste. Die Verleugnung jener konstitutiven Verbindung zwischen Krankheit und Gesundheit in unserer Gesundheitsmelancholie funktioniert aber nur vermeintlich. Gesundheitsminister_innen werden nämlich von einem unbotmäßigen, gärenden Rest eingeholt. Dieser Rest zeigt sich in Form vehementer Unsicherheit, von Ich-Verarmung und in der Erfahrung von Schuldgefühlen . Zudem erscheint die Selbst-Thematisierung der Gesundheitsminister_innen narzisstisch und schamlos. Neben der Kommunikation von Trauer als subversivem Mittel zur Unterbrechung der Gesundheitsmelancholie wird anhand einiger Sequenzen aus Scrubs die ambivalente Potenzialität von Lachen konturiert (Unterkapitel 3.5).
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