Herbert Beyertz
Myriam oder Nebelland hab ich gesehen
ein deutsch-jüdisches Schicksal
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Herbert Beyertz Myriam oder Nebelland hab ich gesehen ein deutsch-jüdisches Schicksal Dieses ebook wurde erstellt bei
M y r i a m M y r i a m Herbert Beyertz
Nebelherz hab ich gegessen
Wellmahr
Herbst am Niederrhein
Berlin der langen Mauer
Eifelfahrt
Neunundachtzig
Zwanzig Jahre durchflogen
Impressum neobooks
Herbert Beyertz
Myriam
o d e r
Nebelland hab ich gesehen
ein deutsch-jüdisches Schicksal
Atelier Lakoschus
Nebelland hab ich gesehen,
Nebelherz hab ich gegessen.-
Ingeborg Bachmann
Myriam Schwartz und Holger Ley – eine Kindheit und Jugend im Nackriegs-Deutschland, ein deutsch-jüdisches Schicksal „geborener Heimatlosigkeit“. Nach frühen niederrheischen Jahren, und nach Jahren im Berlin der langen Mauer: auf dem Baltischen Weg mit Millionen Menschen Hand in Hand zur Ostsee – da ihnen
„die Erde wieder jung und schön daliegt gleich einem Buch von Liedern, eine magische Kette, die alles Festland umschliesst“.
I. Nebelherz hab ich gegessen
II. Wellmahr
III. Herbst am Niederrhein
IV. Berlin der langen Mauer
V. Eifelfahrt
VI. Neunundachtzig
VII. Zwanzig Jahre durchflogen
Nebelherz hab ich gegessen
I Nebelherz hab ich gegessen
Eine Jugend in Deutschland – zwei Fälle von geborener Heimatlosigkeit, Holger Ley und Myriam Schwartz. Sicher fänden sich genug solcher Fälle in so beschwingter Zeit, die mit jeder Halbgeneration mehr Mahlstrom-Charakter zu gewinnen scheint. Es ist aber ein (nach dem Ersten Weltkrieg bereits von Hofmannsthal in seiner Rede auf Beethoven konstatiertes) Erlebnis „grenzenloser Einsamkeit und grenzenloser Verwobenheit zugleich“, das immer häufiger junge Menschen teilen.
Holger Ley: geboren im Unfallwagen auf dem Weg nach einem linksrheinischem Hospital, ertönte Martinshorn als Wiegenlied dem Säugling, noch bevor er in der Wiege lag. Doch war es für diejenige, die so spät noch einmal Mutter werden sollte – nach Jahren des Fliegeralarms und zwei Fehlgeburten –, ein glücklicher Neubeginn, ein Wochenbett ohne Schmerzen.-
Ein Foto von der Vitrine im Esszimmer des Hauses, aufgenommen am Kommuniontag, zeigt ein recht traumverlorenes Knabengesicht. Um Holger gruppiert die kleinen Gaben einer noch eher bescheidenen deutschen Epoche: ein Ball, ein Stofftier, Fahrtenmesser und Buntstifte. Nur der Wellensittich im silbernen Bauer, der war etwas Besonderes. Der schien wie der Bote aus einem anderen, fernen, paradiesischen Land und gewiss nicht von Nebelländern. Mit neun Jahren findet sich noch nicht jeder heimisch auf der dunklen Erde.
Myriam Schwartz aber wurde geboren in einer Schrebergarten-Siedlung West-Berlins, in einer Hütte mit einem Kanonenofen, der mehr rauchte als heizte, zwischen Apfellagen und Körben, kaputten Netzen und altem Angelgerät. Rachel, ihre Mutter, hatte hier das Dritte Reich überdauert, war nicht wie der Vater nach Bergen-Belsen verbracht worden. Felix Schwartz aber kam so ausgezehrt aus dem KZ nach Haus, dass er nur noch selten das Tegeler Spital verlassen konnte. Im Jahr nach Myriams Geburt starb er. Noch vor dem Bau der Mauer kam Rachel Schwartz mit ihrer Tochter in den Westen. Sie wohnte zuerst bei ihrer Schwester in Amsterdam, dann als Nachbarin der Leys in dem Dorf am Niederrhein.- Dieses allzu zerbrechliche Mädchen, das eine Kinderlähmung eben noch glücklich überstanden hatte:beim Nachlauf-Spiel in der Dämmerung eines Dorfabends, da Holger sie als letzte an der Schulter zu fassen bekam und einen sonderbaren Schrecken empfand. Denn jetzt – in der verwirrenden Gegegwart dieses Gefühls – glaubte er sie überhaupt zum ersten Mal berührt zu haben.
Im Haus der Leys befand sich ein Klavier, ein „halber Flügel“, wie die Mutter gern bemerkte. In ihrer Jugend hatte sie einige Ambitionen in der Musik gehabt, zumindest dachte sie wie ihre Schwester Isgard Musikpädagogin zu werden. Inzwischen spielte sie fast nur noch gelegentlichen Besuchern vor, oder wenn Isgard mit ihrem Cello erschien. Es war, als würden ihr Mendelsohn, Grieg und Mozart von Jahr zu Jahr weniger bedeuten. Mit Bitternis im Herzen spielt es sich auch schlecht.
Dies war denn auch der Grund, dass Holger immer öfter bei den Grosseltern in Kevelaer die Schulferien verbrachte. Das leer stehende Dachgeschoß ihres Hauses wurde dann sein liebster Aufenthalt – mit weiten Ausblicken auf das niederrheinische Land, wo statt der Düsenjäger folgender Jahre mehr das reiche Glockengeläut der Wallfahrtskirchen die Luft erfüllte. Und ein Schaukelpferd stand dort, in dessen Sattel Holger schaukelnd und träumend so manche Stunde versass.
Fast der ganze Keller war Abstellraum. Im mittleren bei Bergen von Koks und Papier- und Holzstapel der Heizungsofen. Es war an einem Herbstabend in den Kartoffelferien, dass er in diesen Ofen seine beiden Bärchen warf. Und niemand war zugegen, der ihn gefragt, was ihn bloss dazu geritten habe. Nun sah er sie verkohlen in einem Moment unsäglicher Hilflosigkeit.
Um vieles scheuer und verschlossener fand er sich wieder an der Stätte ewigen elterlichen Unfriedens ein. Fortan trieb es ihn zu den sonderbarsten Fluchten. Bei seinem letzten Fluchtversuch fischte man ihn bei Kaiserswerth noch eben aus dem abendlichen eisigen Rhein. Rufe vom Ufer – Scheinwerfer – panische Momente...
Die Mutter am Küchentisch ihrer neuen Stadtwohnung, die Zeitung neben ihrem Teller:
„Hör dir das an, Holger, es ist nicht zu fassen: Spaziergänger beobachteten, wie eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern über das Geländer der Neusser Rheinbrücke kletterte. Ohne Zögern liessen sie sich gemeinsam in die Tiefe fallen, um sogleich von dem Hochwasser führenden Strom fortgerissen zu werden. Während man schon Polizei alarmiert hatte, kletterte ein Mann über das Geländer und stürzte sich ebenfalls in den Strom… Von den vier Menschen konnte bis zur Stunde keiner geborgen werden.“
Elsa liest es vor nach dem Mittagessen: „Ich glaube, ich kenne die Familie.“
„Steht denn da ein Name?“
„Kein Name. Ich war doch gestern mit Rachel und ihrer Schwester aus Holland in Düsseldorf. Auf der Rückfahrt haben wir bei Kaarst getankt, und die Frau, die dort an der Tankstelle vorüberhastete, als würde sie verfolgt, mit den zwei kleinen Jungs… Mein Gott, das kann nur sie gewesen sein! Sie grüsste, wir hatten sie einmal als Dienstmädchen, lange vor ihrer Ehe. Du erinnerst dich doch – Martina, der Ostflüchtling… Mein Gott.“
Nach einer längeren Pause, Mutter Elsa an der Spüle, ihre Stimme gedämpft vom einlaufenden Wasser:
„Dein Vater, Holger, hat heute Morgen angerufen, er möchte dich gern vor Weihnachten einmal sehen.“
„Muss das sein?“
„Aber Junge, fünf Jahre, dass er dich zuletzt sah… Er ist dein Vater.“
Jemand war zu Besuch gekommen. Holger Ley befand sich auf seinem Zimmer, draussen herrschte tiefe Dunkelheit. Jemand war dem Lärmstrom dieser Dunkelheit entstiegen, war mit dem Aufzug auf acht Stock Schwindelhöhe gefahren, um ihn zu besuchen.
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