Das entwickelte Testdesign orientiert sich an dieser Konkurrenzthese und schafft Satzkontexte, in denen die drei Variablen Wortstellung, Kasusmarker und Belebtheit sowohl zugunsten einer spezifischen semantischen Rolle in transitiven Bedingungen koalieren als auch konkurrieren. Die systematische Korrelation dieser Bedingungen ermöglicht es, gruppen- und sprecherspezifische cue strengthszu erfassen. Das Testdesign ist als forced choice-Aufgabe konzipiert, bei der die Probanden in transitiven Sätzen ein Agens auswählen mussten. Zu den Probanden gehörten Kinder im Alter von durchschnittlich 9;6 Jahren, die sich in Hinblick auf ihr sprachliches Profil unterschieden. Zwei Gruppen waren mehrsprachig, wobei bei einer die Ausgangssprache Niederländisch und bei der anderen Russisch war. Die dritte Gruppe bildeten gleichaltrige monolingual deutschsprachige Kinder. Hinzu kam eine vierte monolinguale Gruppe, die aus erwachsenen Sprechern des Deutschen bestand. Die beiden monolingualen Testgruppen dienten als Kontrollgruppen. Um auch potentielle entwicklungsbedingte Effekte abzudecken, wurden die drei Kindergruppen in Hinblick auf den Sprachstand im Deutschen gematcht. Bei der Auswertung der Testergebnisse wurden damit neben grammatischen und semantischen auch unterschiedliche lernerspezifische Variablen berücksichtigt. Theoretisch ist die Arbeit in der kognitiv-funktionalen und gebrauchsbasierten Linguistik sowie einer konstruktivistisch-empirischen Sprachentwicklungssperspektive verankert. Die aufgeworfenen Fragestellungen werden deshalb vor dem Hintergrund der Grundannahmen verhandelt, dass sprachliches Wissen im Allgemeinen und cue strengthim Besonderen im Sinne eines emergenzorientierten Ansatzes kontinuierlich modifiziert wird. Die Gewichtung von cuesbildet dabei eine lernerspezifische kognitive Repräsentation der jeweiligen Form-Funktions-Relationen ab. Die Arbeit setzt deshalb an der Schnittstelle zwischen Satzverarbeitungsstrategien und sprachlicher Emergenz an.1 Die empirische Aufarbeitung form-funktionsspezifischen Wissens im Deutschen möchte somit eine relativ große Forschungslücke in Bezug auf mehrsprachige sowie insbesondere kindliche Sprecher schließen. Die bisherigen Erkenntnisse zu cue strengthbei der Satzinterpretation beziehen sich nämlich vor allem auf einsprachige Sprecher und zeigen, dass die Gewichtung von cueseinem kontinuierlichen Modifikationsprozess unterliegt. Mehrsprachig aufwachsende Kinder sowie damit einhergehende potentielle mapping-Transferphänomene im Deutschen standen bisher nicht im Fokus. Damit soll erfasst werden, welche Strategien Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen Profilen bei der Satzinterpretation im Deutschen gebrauchen. 1.2 Aufbau Die Arbeit ist in einen theoretischen und einen empirischen Teil gegliedert. In ersterem werden zunächst in Kapitel 2 die beiden im Fokus stehenden grammatischen Mittel Wortstellung und Kasusmarker in Hinblick auf ihr Vorkommen und ihre Funktion als Kodierungsformen für semantische Relationen in den drei relevanten Sprachen (Deutsch, Russisch und Niederländisch) erläutert. Eingebettet ist die Diskussion der grammatischen Formen in eine funktionalistische Sicht auf Sprachgebrauch und -entwicklung. Dieser grundlegenden Gegenstandsanalyse folgt in Kapitel 3 die Darstellung der cue strengthvon Wortstellung, Kasusmarkern und Belebtheit bei der Satzverarbeitung bei ein- und mehrsprachigen Sprechern. Im Zuge dieses Forschungsüberblicks wird auch das Competition Modelerläutert und eingeordnet. Ergänzt ist der Überblick um Erkenntnisse zum Erwerb transitiver Satzschemata und Kasusmarker im Deutschen. Die theoretische und methodische Beleuchtung sprachentwicklungsrelevanter Fragestellungen mündet schließlich in den zweiten Teil der Arbeit, der die Empirie umfasst. Dazu werden zunächst in Kapitel 4 die Fragestellungen, das experimentelle Testdesign sowie die der Arbeit zugrundeliegenden Hypothesen vorgestellt. Kapitel 5 enthält schließlich die Ergebnisdarstellung und -analyse. Die Arbeit schließt mit einer Ergebnisdiskussion (Kapitel 6) sowie einem Ausblick (Kapitel 7). 2 Kasusmarker, Wortstellung und semantische Relationen – eine kontrastive Perspektive Sprachen bedienen sich unterschiedlicher Kodierungsmechanismen zum ‚Verpacken‘ ( mapping) semantischer Relationen. Für mehr- und einsprachige Sprecher bedeutet dies, dass sie die einzelsprachlichen Kodes identifizieren und lernen müssen. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob mehrsprachige Kinder L1-spezifische Kodes (oder cues, s. Kapitel 3) auf die Satzverarbeitung in der L2 Deutsch übertragen. Bevor also erläutert werden kann, welche cuesfür welche Lerner im Deutschen wann besonders wichtig sind und ob tatsächlich die Existenz eines mapping-Transfers plausibel ist, muss geklärt werden, über welche Kodierungsformen die für die vorliegende Untersuchung relevanten Sprachen überhaupt verfügen. Im Folgenden wird deshalb skizziert, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede das Deutsche, das Niederländische und das Russiche hinsichtlich der Kodierung semantischer Relationen aufweisen. Die Gegenstandsbeschreibung erfolgt hierbei im Sinne des funktionalen Prinzips. Zum besseren Verständnis geht der Gegenstandsbeschreibung zunächst die Erläuterung von Grundannahmen der funktionalen Linguistik voran. 2.1 Funktionalistische Ansätze: Theoretische Prämissen Die Annahme, dass Formen und Funktionen in einer interdependenten Beziehung zueinander stehen und dass formale Strukturen funktional motiviert sind, bildet die Basis funktional-linguistischer Ansätze. Die funktionale Linguistik geht davon aus, dass „Sprache nicht isoliert, sondern nur in Beziehung zu ihrer Rolle in der zwischenmenschlichen Kommunikation erforscht werden kann“ (Smirnova/Mortelmans 2010: 13, vgl. auch Bischoff/Jany 2013). Die Analyse sprachlicher Strukturen erfolgt dabei stets in Hinblick auf die Funktionen, die sprachliche Mittel und Formen kommunikativ und kognitiv erfüllen. Die Betrachtung sprachlicher Systematiken als Abbildung kommunikativer Absichten sowie semantischer Konzepte ist der Ausgangspunkt jeglicher funktional motivierter Beschreibungskonventionen. Die Grundidee der funktionalen Linguistik geht auf die Prager Schule der 20er Jahre zurück. Das funktionalistische Credo – „functions are embodied in structures“ (Tomasello 1998: xvi) – impliziert, dass Sprecher in Kommunikationssituationen vor der Herausforderung stehen, komplexe kommunikative Einheiten in ein lineares sprachliches System zu ‚verpacken‘. Grammatische Strukturen dienen also dieser ‚Verpackung‘ (vgl. Daneš 1987) und strukturieren die verbale Interaktion zwischen Sprecher und Hörer. Langacker (1998: 1) fasst die Funktionen sprachlicher Systeme mit den Begriffen semiological functionund interactive functionzusammen. Einerseits können durch den Gebrauch sprachlicher Mittel Gedanken und Konzepte symbolisiert werden, andererseits stellen diese Mittel Kommunikation überhaupt erst sicher. Die daraus resultierende Abbildung von Form auf Inhalt und Inhalt auf Form wird im Rahmen funktionalistischer Ansätze und Modelle als mapping(auch direct mappingbeziehungsweise form-function mapping) bezeichnet. Die Verknüpfung zwischen sprachlicher Form und außersprachlichem Inhalt ist dabei genuin symbolisch. Die konkrete äußere Form ist Bates/MacWhinney (1989: 18) zufolge zwar arbiträr, ihre funktionale Motivation ist von dieser rein formalen Arbitrarität jedoch nicht betroffen. Sprachgebrauch, -verarbeitung und -lernen muss deshalb als ein kontinuierliches Ent- und Verpacken beziehungsweise Denotieren und Konnotieren von Formen und Funktionen verstanden werden. Problematisch bei einer funktionalistischen Betrachtung von Sprache ist zunächst die fehlende theoretische Basis. Es existiert keine einheitliche zugrunde liegende funktionalistische Theorie, vielmehr stehen unterschiedliche Ansätze mehr oder weniger lose nebeneinander, die funktionalistische Annahmen teilen.
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