Wer jedoch welche Rolle spielt, wird erst durch die Hinzunahme grammatischer Mittel deutlich. So kann beispielsweise entweder das Mädchen ( Das Mädchen schenkt dem Jungen eine Blume) oder der Junge ( Dem Mädchen schenkt der Junge eine Blume) zum Schenkenden werden. Im Deutschen lässt sich anhand der Kasusmarkierung am Artikel meist eindeutig erkennen, wer welche Rolle in einer Handlung einnimmt. Wie die obigen Beispiele jedoch deutlich machen, sind Kasusmarker nicht immer eindeutig (zum Beispiel im Plural) oder nicht immer verfügbar, sodass der Sprecher andere Informationen hinzuziehen muss, mittels derer semantische Relationen im Satz determiniert werden können. Für den Fall, dass keine morphologischen Marker verfügbar sind, ist besonders die syntaktische Position der Aktanten relevant – diese grammatische Information ist nämlich in jedem Fall verfügbar. Weitere grammatische Mittel können die Subjekt-Verb-Kongruenz sein (zum Beispiel Die Kinder sieht der Mann) sowie besonders die Prosodie und der Kontext. Auf semantischer und damit nicht-grammatischer Ebene spielt auch die Belebtheit der Aktanten eine Rolle. Kasusmarker, Abfolge im Satz, Belebtheitskontraste, Prosodie und Kongruenzrealtionen fungieren damit als potentielle cuesfür semantische Relationen. Die grammatischen und semantischen Indikatoren sind hierarchisch zunächst gleich gewichtet. Wen der Sprecher in einem Satz wie Die Esel wollten natürlich alle Kinder streichelnals Agens auswählt, hängt schließlich von der sprecherspezifischen Gewichtung dieser cues, der sogenannten cue strengthab. Das Spezifikum des Deutschen besteht dabei darin, dass unterschiedliche cuesein und dieselbe Funktion erfüllen können. Allein der Sprecher entscheidet darüber, welche Kodierungsform die ausschlaggebende ist. Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich folgern, dass sprachliche Mittel mehr oder weniger eindeutige Funktionen erfüllen, mithilfe derer Sprachverständnis überhaupt ermöglicht und so die primäre Funktion von Sprache – nämlich die Kommunikation – gesichert werden kann. Diese funktionale Sicht auf grammatische und semantische Mittel wirft im Kontext eines auf sprachliche Entwicklung bezogenen Zugangs die Frage auf, wie Kinder Wissen über Formen und ihre Funktionen erlangen. Aus einer kognitiv-funktionalen und gebrauchsbasierten Perspektive, die den Grundstein dieser Arbeit bildet, heißt das, dass Kinder im Zuge ihrer sprachlichen Entwicklung vor der Aufgabe stehen, Form-Funktions-Paare zu finden, diese zu systematisieren, zu verstehen und letztlich selbst zu gebrauchen. Konkret bedeutet das, dass sie mittels spezifischer kognitiver Fertigkeiten den sprachlichen Input in Hinblick auf cuesdurchsuchen, um adäquate formalsprachliche Kodierungsmöglichkeiten aufzufinden, die eine Satzinterpretation und -produktion sicherstellen. Besonders bei der Satzverarbeitung dienen diese cuesals Anhaltspunkte, mit deren Hilfe semantische Relationen identifiziert werden. Das Ziel im Sinne einer erfolgreichen, auf automatisierte Satzverarbeitung hin ausgerichteten sprachlichen Entwicklung besteht darin, mappingszwischen Formen und ihren Funktionen aufzubauen und so zu validen Form-Funktions-Paaren zu gelangen. Dies ist im Deutschen besonders deshalb eine potentielle Hürde, da eben keine Eins-zu-Eins-, sondern eine Viele-zu-Eins-Relation besteht (das heißt viele cuesfür eine Funktion). Kombiniert mit der These, dass die Gewichtung der einzelnen cuessprecherspezifisch variieren kann, schließt sich in Bezug auf sprachliche Entwicklungsprozesse die Frage an, ob Kinder zu unterschiedlichen Zeitpunkten spezifische Kodierungsmöglichkeiten als Indikatoren für semantische Rollen präferieren und ob sich die Präferenz im Laufe ihrer Entwicklung verändert sowie wovon diese Veränderung abhängig sein kann. Sprachentwicklung wird im Rahmen dieser Arbeit folglich als emergenter, im kontinuierlichen Wandel befindlicher Prozess einer Umgewichtung der cue strengthverstanden, der von unterschiedlichen sprachspezifischen sowie lernerbedingten Faktoren abhängig sein kann. Die lernerbedingten Faktoren, die im Zuge dieser Arbeit im Fokus stehen sollen, beziehen neben der sprachlichen Entwicklung vor allem die Mehr- und Einsprachigkeit von Sprechern ein. So müssen Kinder, die neben dem Deutschen eine weitere Sprache sprechen, in mehreren Systemen valide Form-Funktions-Relationen ausbilden. Eine innersprachliche Varianz wird damit um eine sprachkontrastive Varianz ergänzt. Während beispielsweise das Deutsche über Kasusmarker verfügt, haben andere germanische Sprachen wie das Niederländische einen starken Flexionsabbau erfahren. Da morphologische Marker als Indikatoren für semantische Rollen kaum verfügbar sind, lässt sich im Niederländischen die Rolle der Aktanten ausschließlich an der Abfolge der Konstituenten bestimmen. Andere indogermanische, insbesondere slawische Sprachen wie das Russische sind vom Flexionsabbau weniger betroffen, sodass Kasusmarker in fast allen Satzkontexten zuverlässige Indikatoren für semantische Relationen sind. Auf formal-sprachlicher Ebene stehen sich also die Wortstellung und die Kasusmarkierung als zwei maximal unterschiedliche Kodierungsmöglichkeiten dichotom gegenüber, die im Niederländischen respektive Russischen jeweils hochvalide cuesfür semantische Relationen im transitiven Satz darstellen. Im Gegensatz zum Deutschen dominieren hierbei also zwar maximal unterschiedliche, jedoch eindeutige cuesdie Kodiereung semantischer Relationen. In Bezug auf mehrsprachige Sprecher (Russisch-Deutsch sowie Niederländisch-Deutsch) stellt sich somit die Frgae, ob die validen cuesder jeweiligen Ausgangssprachen (L1) den Verarbeitungs- und Interpretationprozess in der Zielsprache Deutsch (L2) beeinflussen. Unterschiedliche Ausgangssprachen, so die übergeordnete Hypothese der Arbeit, führen zu unterschiedlichen Gewichtungen von cuesund somit zu divergierenden Interpretationsstrategien in der L2 Deutsch. 1.1 Ziele und Fragestellungen Im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen vier Fragestellungen. Erstens soll geklärt werden, welche grammatischen und semantischen cues(Wortstellung, Kasusmarker, Belebtheit) mehr- sowie einsprachige Kinder des Deutschen im Grundschulalter nutzen, um semantische Relationen in transitiven Sätzen zu determinieren. Geklärt werden soll dabei auch, ob und in welche Relation die genannten Mittel zueinander gesetzt werden und welche unterschiedlichen Strategien Kinder nutzen, um Sätze zu interpretieren. Zweitens soll ermittelt werden, ob sich die Gewichtung dieser Mittel verändert und wovon eine potentielle cue strength-Modifikation abhängig ist. Drittens – und dies ist zugleich auch die wichtigste Fragestellung – soll geklärt werden, ob typologisch divergierende Ausgangssprachen die Gewichtung von cuesin der L2 beeinflussen beziehungsweise determinieren. Ein weiteres zentrales Ziel der Arbeit ist es, zu überprüfen, ob und welche spezifischen Artikelformen des Deutschen mit spezifischen Informationen verknüpft werden. Die Annahme hierbei ist, dass einzelne Artikelformen prototypische Funktionen erfüllen. Die Modifikation der cue strengthkönnte dabei ein Resultat dieser auf einzelne Artikelformen im Kasusparadigma bezogenen Form-Funktions-Relationen sein. Die Beantwortung der Fragen erfolgt auf der Basis eines empirischen experimentellen Designs, in dem grammatische (Wortstellung, Kasusmarker) und semantische (Belebtheit) cueskoalieren und konkurrieren. Methodisch orientiert sich das Testdesign an den Prinzipien des Competition Models(CM), was deshalb ausgewählt wurde, weil es neben grundlegenden funktionalsprachlichen Prinzipien auch kognitive Mechanismen bei der Sprachverarbeitung und der sprachlichen Entwicklung berücksichtigt und darüber hinaus ermöglicht, einzelne cuesund ihre Relevanz für Satzverarbeitungsstrategien systematisch zu überprüfen. Das Modell umfasst die These, dass sprachliche Formen um die Kennzeichnung semantischer Relationen konkurrieren können.
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