„Das ist okay.“
„Warum wurde die Fraktionssitzung auf zwölf Uhr verschoben?“
„Das weiß ich nicht. Inger hat es mir gerade gesagt. Erik will mir etwas anhängen. Das weiß ich. Ich spüre es.“
Hans-Erik wollte ihn beruhigen, soweit es ihm als Jungen mit erst drei Jahren Erfahrung als Abgeordneter möglich war.
„Vielleicht gibt es ja einen vernünftigen Grund dafür.“
„Ja, und ich kann Papst in Rom werden“, kanzelte Kjeldsen ihn ab. „Hast du sonst noch was gehört?“
„Nein. Gestern Abend habe ich mit Karsten, Ejnar, Frank, Birgit und Elsebeth telefoniert. Sie alle unterstützen dich.“
„Das sollten sie auch. Was ist mit Knud?“
„Das weiß ich nicht. Ich glaube schon, aber er ist ein merkwürdiger Kerl. Wenn er sich unter Druck gesetzt fühlt, kann er schnell auf stur schalten. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er Erik unterstützt.“
„Kannst du Elsebeth bitten, so bald wie möglich mit ihm zu reden? Vor ihr hat er keine Angst. Sie sollte ihm klarmachen, dass auf jeden Fall die Mehrheit der Fraktion hinter mir steht. Er ist nicht der Typ, der zur Minderheit gehören will. Apropos Typ: Was ist mit Svenningsen?“
„Ich habe gestern mit ihm gesprochen. Er kam zufällig in mein Büro und wollte, dass ich ihn lobe. Spontan meinte er, dass du und Erik umstritten wärt. Dass wir nach einem Kompromisskandidaten suchen sollen und dass ich ja ‚leider‘ zu jung sei.“
Kjeldsen und Hans-Erik lachten beide laut.
„Aber er ist dabei. Ich habe ihm versprochen, dass er beim nächsten Finanzplan eine kleine Umgehungsstraße in seinem Wahlkreis einbauen kann.“
„Na ja“, wandte Kjeldsen ein.
„Nur ruhig! Daraus wird ja doch nie was. Wir können Svenningsens Umgehung ja in drei Zeilen im Finanzplan erwähnen, dann weiß das Finanzministerium, dass wir das nicht ernst meinen.“
„In diesem Finanzplan gibt es bald eine Umgehungsstraße oder ein Stück Autobahn für jeden Abgeordneten“, beschwerte sich Kjeldsen.
„Na und? Das machen die anderen doch genauso. Das ist schon in Ordnung. Svenningsen kann nicht als einziger in seinem Landkreis keine Umgehungsstraße in der Hinterhand haben.“
„In Herr Gotts Namen, okay.“
„Svenningsen ist mit auf unserer Straße, der Umgehungsstraße …“, sagte Hans-Erik Kolt und lachte auf. Obwohl erst dreiunddreißig, war er schon ein erstklassiger Politiker. Er war noch nicht hundert Prozent betriebssicher, aber das alles war, wie es sein sollte. Hans-Erik hatte den ganzen Abend daran gearbeitet.
Inger stand in der Tür.
„Ja?“
„Herdis hat noch mal angerufen. Sie sagt, es sei wichtig. Und Ulrik Torp vom Dagbladet will vor der Fraktionssitzung gern mit dir sprechen.“
„Wusste er denn, dass die erst um zwölf Uhr stattfindet?“
„Offensichtlich.“
„Das ist doch unglaublich! Bin ich der Letzte, der es erfahren hat? Hast du Pingel erreicht?“
„Nein. Seine Sekretärin ist noch nicht da. Er ist weder zu Hause noch auf seinem Handy erreichbar. Und Peder Schou ist noch nicht im Sekretariat. Die Mitarbeiter wissen nicht, wo er ist. Sagen sie.“
Kjeldsens Durchwahl klingelte schon wieder.
„Ja!“
„Hier ist noch mal Hans-Erik, hast du die Ritzau-Meldungen gelesen?“
„Nein, ich habe Ritzau nicht gelesen. Seit ich hergekommen bin, werde ich ständig gestört.“
„Dann tu das“, sagte Hans-Erik und legte auf.
Kjeldsen schaltete den Computer an und fluchte, weil der eine Minute benötigte, um hochzufahren und die Verbindung zu Ritzau herzustellen. Endlich! Vor zwei Minuten, um 09:32 Uhr, war ein Telegramm mit folgender Überschrift gekommen:
Pingel: Aksel war mein Lehrmeister.
Darunter stand:
Der Fraktionsvorsitzende der Demokratischen Partei, Erik Pingel, besuchte am Dienstagmorgen Aksel Bruun, der aufgrund eines Autounfalls, bei dem am Montagmorgen Bruuns Frau ums Leben kam, immer noch im Koma liegt. Zusammen mit Parteisekretär Peder Schou und einem großen Blumenstrauß kam Pingel ins Rigshospital, wo er mit dem behandelnden Arzt von Aksel Bruun sprach. Nachdem er fast eine Viertelstunde allein am Bett des alten Parteivorsitzenden verbracht hatte, trat ein sichtlich bewegter Erik Pingel vor die zahlreich versammelten Pressevertreter:
„Ich habe mit den Ärzten über Aksels Zustand gesprochen. Es ist zweifellos ernst. Er liegt im Koma, aber er lebt und hat die Chance, wieder aufzuwachen, heißt es. Ich hatte gerade die Gelegenheit, allein an seinem Bett zu sitzen, und mache keinen Hehl daraus, dass ich denke, das Leben kann manchmal grausam sein. Er hatte noch so viel zu geben. Persönlich kann ich sagen, dass ich alles, was Politik betrifft, von ihm gelernt habe. Und ich glaube, das gilt für viele.“
Ein bewegter Erik Pingel brach daraufhin das Treffen mit den Journalisten ab, entschuldigte sich mehrfach und verschwand durch eine Hintertür. Der Parteisekretär Peder Schou informierte dann darüber, dass – entgegen anderslautender Gerüchte – bei einer Fraktionssitzung heute noch nicht über die zukünftige Leitung der Partei entschieden werde. Noch hofft man, dass Aksel Bruun überleben und als Vorsitzender weitermachen kann, erklärte Peder Schou.
Sven Gunnar Kjeldsen starrte stumm den Computerbildschirm an. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Das war ja fast Leichenfledderei. Kjeldsen ließ sich auf den Stuhl fallen. Erst die Fernsehnachrichten gestern Abend und nun das. Alle würden glauben, dass es ihm egal war und Pingel wie ein Sohn für Aksel war.
„Du musst nicht nach Erik suchen. Ich habe ihn gefunden“, sagte Kjeldsen ruhig zu Inger, die in der Tür stand.
*
Peder Schou war ein sicherer und dynamischer Autofahrer. Er schaltete in den dritten Gang runter, fuhr schnell am Lkw vorbei und dann, noch knapp bevor der Querverkehr grün bekam, über die Kreuzung. Die Rushhour war überstanden. Jetzt konnte er etwas freier fahren.
„Ich finde, du solltest mitkommen.“
„Auf keinen Fall.“ Erik Pingel stand kurz vor einem Wutausbruch. Es war das dritte Mal seit Mitternacht, dass Peder Schou ihn zu überreden versuchte. „Wenn herauskommt, dass ich dabei bin, bin ich erledigt. Das musst du doch verdammt noch mal einsehen.“
Das wusste Peder Schou sehr wohl. Allerdings wusste er auch, wenn Pingel nicht dabei wäre und es herauskäme, dass er – der Parteisekretär der Demokratischen Partei – an so etwas teilnahm, dann konnte niemand – besonders Pingel nicht – ihn schützen. Schou suchte nach einer Versicherung. Er hatte sie noch nicht gefunden.
„Setz mich etwas entfernt von Christiansborg ab. Dann sehen wir uns in zwei Stunden bei der Fraktionssitzung. Die Radionachrichten fangen an!“
Peder Schou schaltete genau zu Beginn ein. Es war der erste Beitrag. Er schaltete aus, als der Sprecher über einen drohenden neuen Krieg auf dem Balkan sprach.
„Siehst du, dass es eine gute Idee war, schon jetzt ins Rigshospital zu gehen.“ Peder Schou war stolz, wie immer, wenn er eine gute Idee gehabt und sie gegen Widerstände oder Skepsis durchgesetzt hatte. Erik Pingel hörte ihm kaum zu.
„Er war ein guter Kerl, der Aksel. Das war er wirklich.“
„Er war schwach“, sagte Schou und betonte schwach. Er ignorierte die gelbe Ampel am Rådhusplads, fuhr über den H.C. Andersens Boulevard und halb auf den Radweg vor der Ny Carlsberg Glyptotek.
„Er war schlau, Peder. Er war schlau. Täusch dich nicht.“ Pingel charakterisierte Aksel Bruun in einem warnenden Tonfall. Offensichtlich sollte niemand was Schlechtes über den Alten sagen. Erik lebte sich wirklich in die Rolle ein, dachte Schou, als der Fraktionsvorsitzende aus dem Wagen stieg.
„Bis später.“
Peder Schou verabschiedete sich zu spät. Die Tür war bereits zu. Pingel hatte gesehen, dass die Fußgängerampel über den H.C. Andersens Boulevard grün leuchtete. Schou nutzte die Gelegenheit, wieder zurück auf den Boulevard zu fahren, weiter Richtung Amager. Zum Teufel mit dem Treffen. Es war ihm egal.
Читать дальше