Niels Brunse
Der Meermann
Roman
Aus dem Dänischen
von Ulrich Sonnenberg
Saga
Für Nila
Die Fischer, die mich aus dem Boot zogen, starrten mich mit kugelrunden Augen und gerunzelter Stirn an. Erst da wurde mir bewusst, wie ich aussah. Ich war vollkommen nackt; meine Körperbehaarung bestand nur noch aus Flaum und meine Finger- und Zehennägel waren zur Hälfte abgefallen. Einige Fingerspitzen bluteten. Ich fuhr mir über den Kopf. Auch dort waren lediglich Stoppel geblieben. Ich lachte – aus lauter Überraschung und überschäumender Freude, noch am Leben zu sein.
Sie lachten mit, aber wachsam. Sie waren zu dritt – zwei ältere Männer mit zerfurchten, rotfleckigen Gesichtern und einer, der höchstens ein großer Junge sein konnte, sechzehn, siebzehn Jahre alt. Der Kräftigere der Älteren öffnete den Mund und fragte mich etwas. Das Boot schaukelte. Ich verstand ihn nicht. Er wiederholte die Frage und ich begriff, dass es sich um Englisch handelte, allerdings sprach er einen Dialekt, den ich nie zuvor gehört hatte. Er wiederholte seine Frage und jetzt verstand ich ihn. Bist du ein Mensch?, wollte er wissen.
Art thou a man?
Ich sah ihn an. Seine kräftigen Hände hatten nach meinen Armen gegriffen und mich zum Vordersteven gezogen. Nun saß er ein paar Meter von mir entfernt und wagte nicht, mich noch einmal anzufassen.
»Yes, I am a man«, erwiderte ich.
Es beruhigte sie sichtlich, dass ich sprach. Derselbe Mann fragte nach meinem Namen. John, antwortete ich.
Er lächelte und deutete auf sich.
»Du hast denselben Namen wie ich«, sagte er.
Ich dankte ihnen für meine Rettung und Fischer John entgegnete etwas, das ich nicht verstand. Dann steckten sie die Köpfe zusammen und berieten sich, so vermutete ich jedenfalls, doch aufgrund meines aufgewühlten Gemütszustandes achtete ich nicht besonders darauf.
Das Glitzern der Sonne auf dem Wasser, der Geruch nach Salz und Teer, die Brise, die über die Küste strich, die Bewegungen des Boots, all das traf mich mit einer Kraft, als wären sämtliche Schleier des Gewohnten fortgerissen, als könnte ich mit jeder einzelnen Zelle meines Körpers empfinden. Ich fühlte mich ein wenig schwindelig und seltsam zerschlagen, allerdings konnte ich nirgendwo einen blauen Fleck feststellen; vor allem aber erfüllte mich eine vollkommen euphorische Freude darüber, am Leben zu sein, dieses Sonderbare überlebt zu haben, das mir gerade eben widerfahren war – oder war es schon vor einigen Stunden passiert? Ich hatte keinerlei Erinnerung, wie lange ich im Wasser gelegen hatte, ich erinnerte mich nur an den schwarzen Rumpf des Fischerbootes vor mir und an den unartikulierten Schrei, den ich ausstieß, während ich im Wasser auf der Stelle trat und mit den Armen winkte, so deutlich, wie es mir überhaupt möglich war. Und an die Erleichterung, als in dem Fischerboot zwei Riemen ausgelegt wurden und die Schläge begannen, zunächst etwas zögerlich, doch dann taktfest und zügig.
Nun saß ich auf der vordersten Ducht in Sicherheit und die Fischer im Achtersteven schienen einen Beschluss gefasst zu haben, denn sie nahmen ihre Arbeit wieder auf. Der Jüngste kam mit einem alten Fetzen Segeltuch und forderte mich mit Gesten auf, es mir wie einen Lendenschurz umzubinden. Er wagte offenbar noch nicht, mit mir zu sprechen. Später erfuhr ich, dass er Will hieß. Der andere der beiden Älteren, der sich Jock nannte, hisste das Segel und setzte sich an die Ruderpinne, und während das Boot nach einer Backbordhalse auf die Küste zusteuerte, machten sich Will und John daran, den Tagesfang, der in zwei Weidenkörben vor dem Mast lag, von Fischabfällen und Tang zu säubern.
Ich glaube, in diesem Moment begann ich, mich über das Boot und die Männer zu wundern. Es war ein geklinkertes, breites Holzboot von ungefähr zwanzig Fuß Länge, das relativ ruhig in der See lag. Alles war aus Holz, sogar die abgenutzten Ruderdollen. Das primitive Gaffelsegel war an einigen Stellen geflickt und das gesamte Tauwerk bestand aus geteerten Hanfseilen, genau wie das Vorstag, an dem ich mich mit einer Hand festhielt. Die Männer waren barfuß, sie trugen dunkle Hosen, die ihnen bis zur Wadenmitte reichten, und bauschige schmutzige Hemden aus gebleichtem Leinen, sonst nichts. Ihr halblanges fettiges Haar und der Backenbart um Jocks Kiefer hatten etwas undefinierbar Altmodisches, auch gab es keinerlei Hinweise auf einen Motor, auf Funk oder Navigationsinstrumente. Meine Verwunderung wurde allerdings durch vier, fünf kreischende Möwen abgelenkt, die vorbeischossen, um zwischen den Resten, die die Fischer über Bord warfen, etwas Essbares zu erwischen. Beim Anblick ihrer unbeschwerten Luftakrobatik und dem weißen Schimmer ihres Gefieders in der Sonne hatte ich wieder das Gefühl, innerlich jubeln zu müssen, mich erfüllte dieses Gefühl von Freiheit auf See, das ich schon immer beim Segeln empfand.
Als wir uns der Küste näherten, stieß Jock einen Warnruf aus, ging über Stag und legte das Ruder um, doch statt unsere Fahrt zu verlangsamen, wurden wir schneller, und ich begriff, dass er das Boot auf den Strand auflaufen lassen wollte. John kam in den Bug und ich stand auf und sprang backbord hinaus, so wie er es an Steuerbord tat, und half, das Boot den Strand hinaufzuziehen. In diesem Augenblick verlor ich meinen Lendenschurz, aber es gelang mir gerade noch, ihn mit der linken Hand festzuhalten; und während ich hinter mir Will lauthals lachen hörte, schaute ich auf und begegnete dem starren und entsetzten Blick eines sechsoder siebenjährigen Jungen, der offenbar zum Strand gekommen war, um uns zu empfangen.
»Ein Meermann! Ein Meermann!«, schrie der Junge und schoss auf einige Hütten zu, die ich ein Stück weit entfernt undeutlich erkennen konnte. Da stand ich nun am Strand, splitternackt, kahl und tropfend, und rascher, als ich geglaubt hätte, verbreitete sich das Gerücht über den Meermann.
Als ich mir den nassen Lumpen wieder auf eine einigermaßen vertrauenerweckende Weise um den Körper gebunden hatte, war der Junge bereits mit einer Frau an der Hand auf dem Weg zurück zu uns. Es war Johns Ehefrau Meg, der Junge war ihr Sohn Harry, und Will war ein Sohn von Jocks Schwager, aber all das erfuhr ich erst später. John beruhigte seine Frau, dass ich durchaus ein menschliches Wesen sei, und sie hieß mich willkommen. Wir gingen hinauf zu den Hütten, die dort standen, wo der Strand in dürren Bewuchs und kleine, flache Dünen überging. Von John erhielt ich ein Paar zerschlissene Hosen und ein fast neues Hemd. »Das ist alles, was wir haben«, erklärte Meg nüchtern, nahm ein Brot vom Tisch, hielt es an die Brust und schnitt mit einem kurzen, fast völlig heruntergeschliffenen Messer eine dicke Scheibe ab. Dann nahm sie einen Krug Wasser aus der Tonne und reichte ihn mir, entschuldigte sich, dass sie »sich um die Fische zu kümmern hätten«, und ging mit den Männern wieder hinunter zum Strand. Ich dankte ihr, aber die Worte schienen an ihrem Rücken abzuprallen.
Ich setzte mich vor die Tür, lehnte den Rücken an die Bretterwand und aß und trank. Nie hatten mir Wasser und Brot besser geschmeckt. Die Sonne schien noch immer und ich sah, wie die drei Männer und die Frau die Fische mit raschen, routinierten Bewegungen auf einem aus Bohlen gezimmerten, vor Alter silbergrauen Tisch ausnahmen, in eine Tonne legten und Salz zwischen die Lagen streuten. Ein paar glänzende Hornfische wurden in einen kleinen Eimer mit einem Strick als Henkel geworfen und mit etwas Meerwasser begossen, dann rief Meg den Jungen, der neben dem Boot stand und immer wieder aus den Augenwinkeln zu mir hoch schielte.
»Bring die dem Pastor«, befahl sie ihm so laut, dass ich es hören konnte, »und beeil dich!« Harry lief so schnell, wie es mit dem platschenden Eimer überhaupt möglich war, und bald war er hinter einer Düne verschwunden.
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