Vom Dachboden des Strawberry holte ich meinen kleinen Beutel mit der wenigen zusätzlichen Kleidung, die ich mir trotz allem beschafft hatte, und stieg die steile Treppe wieder hinunter. In der Schankstube sah ich, dass Mop wie ein gehorsamer Hund mit schräggelegtem Kopf dasaß, während Mutter Swottle prüfend auf die Rückseite eines blanken Silberlöffels starrte. Sie schaute mich an und hatte offensichtlich bemerkt, wie sehr mich dieser Anblick amüsierte, denn sie brach in ihr gellendes Jungmädchenlachen aus. Sämtliche Gäste des Wirtshauses lachten mit, ohne zu wissen warum.
Ich überquerte die Brücke und ging nach Westen, dann setzte ich meinen Weg über St. Paul’s und Ludgate Hill fort und lief an den großen Häusern und Gärten an The Strand und dem Kreuzmonument von Charing vorbei, bis ich Whitehall erreichte. Und die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass dies meine bisher wichtigste Wanderung durch London war.
In einem der labyrinthischen Seitengebäude des Palastes gab mir ein Regimentsschreiber den Bescheid, am nächsten Morgen wiederzukommen. Leicht fröstelnd schlief ich unter einem Busch in der Nähe.
Am Morgen trat ich zusammen mit einigen weiteren potenziellen Rekruten vor einen Offizier. Er taxierte mich mit den Augen und fragte: »Was kannst du?«
»Nichts«, antwortete ich.
»Wir schätzen ehrliche Soldaten«, erklärte er sarkastisch und reichte mir eine fünf Meter lange Lanze, die ich unbeholfen in die Hand nahm. »Beide Hände«, befahl er. Dann trat er einen Schritt zurück, als ob er mich beurteilen wollte – und mit einer so raschen Bewegung, dass ich sie gerade noch registrieren konnte, zog er sein Schwert und holte aus. Als ich die Klinge aufblitzen sah, parierte ich instinktiv mit der Lanze und ging in die Knie.
»Du kannst etwas «, sagte der Offizier.
Als der Schreiber kurz darauf nach meinem Namen fragte, gab ich ihm dieselbe Erklärung, die ich die ganze Zeit in London benutzt hatte: Dass ich aus Norwegen käme und John Gammeldags hieße.
John Gambledays of Norway, hielt der Schreiber sorgfältig auf seinem Papier fest. Ich war rekrutiert.
Wieso ich nicht nach Dänemark zurückgegangen bin, wollte Thurloe heute wissen.
Dänemark im siebzehnten Jahrhundert wäre mir ebenso fremd gewesen wie England, antwortete ich. Und schwieg.
Es war doch richtig. Ich hatte es mir oft überlegt: Wie würde es sein, in einem Kopenhagen anzukommen, in dem kein einziger der bekannten Türme aufragte, in dem keine Øresundbrücke und keine Windkraftanlagen im Meer mit kraftvollen Akzenten das Bild bestimmten; eine kleine Stadt innerhalb einiger Wälle, die ich nie gesehen habe; eine Stadt, in der die Menschen wahrscheinlich ein Dänisch sprachen, das ebenso seltsam klang wie das Englische in den ersten Monaten hier. Es war ja nicht ausgeschlossen, dass ich auf einem Schiff hätte anheuern können, das nach Dänemark segelte, aber wäre es tatsächlich dazu gekommen, wäre es keine Heimkehr gewesen, sondern nur eine Reihe neuer Rätsel, denen ich mich ausgesetzt hätte.
Doch das war nur die rationale Seite. Beinahe von Anfang an hatte es aber noch etwas anderes gegeben, eine Art erdrückende Gewissheit, dass irgendetwas mich hierher versetzt hatte und ich nichts daran zu ändern vermochte. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mir zu überlegen, wie ich dieses England verlassen könnte, stieß ich auf diese Gewissheit wie auf eine Mauer – keine schmerzhafte Mauer, eher eine schützende und beruhigende Mauer. Ich kann es noch immer nicht erklären. Ich habe nie an höhere Mächte geglaubt und glaube noch immer nicht daran, aber es erschien mir unstrittig, dass ich hierzubleiben hatte, daran gab es nichts zu diskutieren.
Hatte es etwas mit Christine zu tun? Ich vermisste sie noch immer, manchmal sehr heftig, und noch heute ertappe ich mich dabei, dass ich ein Echo der damaligen Sehnsucht verspüre. Und doch war unsere Beziehung auf eine eigenartige Weise auf null gestellt worden. Es war kein Bruch, es war eine Zurücknahme, es war etwas passiert, was eigentlich niemals geschieht: Dass das Geschehene ungeschehen gemacht wird. Je mehr ich in meiner neuen Umgebung meinen Platz fand, desto mehr kam es mir vor, als hätte sie ihr Leben nicht weitergelebt, während ich meines fortsetzte; es war, als wäre sie annulliert, als wären sie und ich uns niemals begegnet, als wären wir noch nicht geboren, als würden wir es vielleicht auch nie. Unsere gemeinsamen Erlebnisse, gute wie schlechte, waren eine Geschichte, die ich mit mir herumtrug, keine Erinnerungen an etwas, das wirklich stattgefunden hatte. Bis dahin und nicht weiter konnte ich in meinen Gedanken gehen; wenn ich mich weiter vorwagte, wurde mir schwindlig und übel, so wie jetzt.
Das Brot und das kalte Fleisch auf meinem Zinnteller erinnern mich daran, dass Thurloe heute beinahe zur gleichen Zeit erschien, als mir das Mittagessen hereingestellt wurde. Jetzt habe ich keinen Appetit.
Zum ersten Mal wagte ich ihn zu fragen, wie lang es dauern wird, bis über meinen Fall entschieden ist.
»Das liegt nicht in meinen Händen«, antwortete er lakonisch.
»Nun ja, aber was glaubt Ihr?«
»Ich weiß es, wenn ich es erfahre.«
»Kommt Ihr morgen wieder?«, fragte ich und meine Stimme brach und verriet, wie sehr ich seine Besuche gleichermaßen wünsche wie fürchte.
Es entging seiner Aufmerksamkeit nicht. Vor Überraschung hoben sich seine Augenbrauen ein wenig. Ein kurzer, prüfender Blick, dann antwortete er: »Ja. Ich verspreche es.«
Fühlte ich mich getröstet oder bedroht? Es ist nahezu unmöglich, es zu unterscheiden …
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