1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Als ich am Sonntag zusammen mit dem Pastor und seinem Hausstand in die Kirche ging, sah ich John und Jock in einer kleinen Gruppe von Menschen, die vor der Tür auf jemanden warteten. Sie warteten auf mich, und als wir uns begrüßt hatten und der Pastor mit seinem Gefolge hineingegangen war, flüsterte Jock mir zu: »Wir haben am Strand ein Boot gefunden. Möglicherweise ist es deins.«
An diesem Tag hörte ich nicht richtig zu, weder den Gebeten noch der Predigt. Die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um das Boot, um die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass es nach mehreren Monaten wieder aufgetaucht sein sollte, um die vielversprechenden Perspektiven, die sich eröffneten, wenn es tatsächlich mein Boot sein sollte. Und nachdem ich wie gewöhnlich im Pfarrhaus gegessen hatte, konnte ich gar nicht schnell genug aufbrechen.
John und Jock begleiteten mich, wir gingen eine gute halbe Stunde am Strand in nördliche Richtung. Schon von Weitem sah ich das Boot – und wusste, dass es nicht meins war. Kein weißer Glasfieberrumpf, kein Glitzern von blankem Metall, sondern eine geteerte Holzjolle wie ihre, nur kleiner und ein wenig anders in den Linien. Das Boot lag am Strand auf der Seite und es zeigte sich, dass an einer Bordwand einige der oberen Planken zerbrochen und beschädigt waren. Das Ruder fehlte und der Mast war knapp zwei Meter über dem Mastfuß gebrochen. Vom Segel gab es keine Spur und abgesehen von ein paar ausgefransten Tauenden war auch das Rigg verschwunden.
»Das ist nicht mein Boot«, sagte ich und konnte meine Enttäuschung kaum zurückhalten.
»Jetzt ist es deins«, sagte John. »Lass es uns instand setzen, dann kannst du damit nach London segeln.«
»Aber …«, wandte ich ein.
»Wir helfen dir«, versprach John.
Zusammen schleppten wir die Jolle in ein Versteck zwischen den Dünen und Jock verwischte die Schleifspuren mit einem großen Büschel Strandhafer, das er mit bloßen Händen ausriss; ich hätte es nicht tun können, ohne mich an den scharfen Blättern zu schneiden. In den folgenden Tagen brachte ich alle möglichen Entschuldigungen vor, um den Pfarrhof möglichst früh verlassen zu können und zum Strand zu gehen, und meine Fischerfreunde transportierten inzwischen in ihrem Boot Werkzeug, einen Eimer Teer und etwas Treibholz in das Versteck.
Tag für Tag wurde der havarierte Rumpf einem seetüchtigen Boot ähnlicher. Die beschädigte Bordwand wurde mit Brettern repariert, die eigentlich nicht zu den übrigen Planken passten, das Stück einer rot gestrichenen Tür, die passender Weise noch mit einem Scharnier versehen war, ließ sich als Ruder verwenden, und ein Riemen mit zerbrochenem Ruderblatt wurde abgesägt und zum Mastbaum ernannt. John hatte ein kleines dreieckiges Segel aus dem Stück Persenning genäht, unter dem ich in der ersten Nacht geschlafen hatte. Als schwierigstes Problem erwies sich der Mast. Will, der uns in den letzten Tagen geholfen hatte, stieg auf eine der flachen Dünen und hielt Ausschau.
»Lasst uns einen Baum fällen«, schlug er vor, als er zurückkam. Er hatte weit entfernt in der einsamen Landschaft eine Stelle gefunden, an der einige junge Pappeln standen, wahrscheinlich am Rand eines Wasserlaufs.
»Frisches Holz? Du musst verrückt sein«, sagte Jock.
»Was anderes haben wir nicht«, erwiderte Will.
Sie sahen mich an und ich nickte. Es kostete uns einige Stunden, um dorthin zu gelangen, den geradesten der schlanken Bäume zu fällen, ihn zu entrinden und zuzusägen – und ihn dann durch das sumpfige Gelände zurückzutragen, praktisch von einem kleinen Erdhügel zum nächsten. Doch als es dämmerte, stand der Mast, weiß, neu und sachkundig im Kielschwein verzapft. Jock umfasste ihn mit beiden Händen und versuchte ihn zu verdrehen. Er bewegte sich nicht.
»Das Rigg wird ihn schon halten«, meinte er.
Am nächsten Tag wurde das Boot getakelt – mit Vor- und Achterstag und Wanten an jeder Seite, alles aus zusammengebundenen alten Tauresten, die nicht einmal die gleiche Stärke hatten. Das Fall für das Segel bestand aus einem dünnen Hanfgarn, das doppelt geführt wurde. Das Boot war fertig. Der Anblick hätte jeden anständigen Bootsbauer zum Weinen gebracht – doch mein Herz klopfte vor Erwartung.
»Lassen wir es zu Wasser«, schlug John vor und zu viert schleppten wir das Boot hinaus, bis es genügend Wasser unter dem Kiel hatte. Es schwamm! Die Fischer brachten das Werkzeug an Bord ihres eigenen Bootes und wollten aufbrechen – doch Jock überlegte es sich anders. »Es ist besser, ich segele mit dir«, sagte er.
Wir legten ab. Ich saß wieder an der Ruderpinne eines Schiffes! Der Wind kam aus Südwest, so dass beide Boote kreuzen mussten, und ich stellte schon bald fest, dass wir nicht gerade ein Rennboot für mich gebaut hatten. Doch mit dem kleinen Segel ließ sich leicht manövrieren und der Pappelmast krümmte sich so graziös wie der Mast einer modernen Regattajolle, so dass das Boot sich beinahe selbst trimmte. Jock bemerkte es ebenfalls und schaute sich kopfschüttelnd und lachend den Mast an. Im Übrigen achtete er auf eventuelle Lecks; an vier, fünf Stellen sickerte Wasser ins Boot, aber nicht wirklich bedrohlich. Jock holte ein Büschel gerupftes Tauwerk aus der Tasche und stopfte es mit seinem Messer locker in die Ritzen.
»Ich bringe das morgen noch in Ordnung«, sagte er.
Einige Zeit nach John und Will erreichten wir das Fischerlager. Mein kleines Boot wurde neben die anderen gezogen und ich machte mich eilig auf den Weg zurück zum Pfarrhof. Ich musste die Kleiderkiste mitnehmen, wenn ich aufbrach, ich hatte eingesehen, dass ich alles benötigen würde, was überhaupt von irgendeinem Wert war. Außerdem brauchte ich Tageslicht und einigermaßen vernünftigen Wind.
Es war bereits dunkel, als ich zurückkam, doch im Studierzimmer des Pastors brannte noch Licht. Ich schlich in den Stall und tastete mich vor, aber er musste mich kommen gehört haben, denn kurz darauf stand er mit einem Kerzenhalter in der Hand in der Stalltür.
»Master John!«, rief er.
Ich ging zu ihm, bereits halb ausgezogen, nur in meiner Hose und mit nackten Füßen.
»Ich muss morgen nach Norwich und werde erst übermorgen zurück sein«, sagte er. »Auf dem Tisch liegen drei Bücher mit Lesezeichen, außerdem habe ich Papier und Feder bereitgelegt. Schreib wie gewöhnlich die Stellen für mich ab.«
»Ja, natürlich.«
Er senkte das Licht. »Was hast du denn da auf deiner Hose? Teer?«
»Ich habe den Fischern geholfen«, erklärte ich.
Er hob die Kerze wieder, so dass er mir in die Augen sehen konnte – und ich in seine. Ich hatte das Gefühl, als würde ich eine ferne Trauer in seinem Blick aufkeimen sehen. Ich weiß es nicht, vielleicht war es auch nur die ungewohnte Beleuchtung.
»God speed thee«, wünschte er.
Ein zweideutiger Ausdruck. Viel Glück – oder gute Reise. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte.
In der Tür wandte er sich um.
»Gute Nacht, Master John.«
Ich wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht und er schloss die Tür. Die Dunkelheit des Stalles umfing mich.
Ich kann den Wachwechsel draußen vor der Tür hören. Die schweren Schritte, die kurzen, leisen Befehle. Die Stimmen tauschen Informationen in einem nicht ganz so kommandoartigen Ton aus. Tag und Nacht steht ein Soldat dort draußen – natürlich nicht, um mich zu beschützen, sondern um aufzupassen, dass ich nicht flüchte. Bestimmt gibt es auch noch einen Posten am Haupteingang, und unten im Garten habe ich hin und wieder einen Dragoner mit Rock und einem breitkrempigen Hut auf und ab gehen sehen; allerdings gibt es auch längere Zeiten, in denen offensichtlich niemand da ist. Es wäre nicht unmöglich, das Fenster mit einem Stuhl einzuschlagen, aus dem ersten Stock zu springen und sich einen Weg durch die Hecke zu bahnen.
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