An guten Tagen war das Leben indes auszuhalten und ich lauschte ebenso begehrlich wie die anderen Tagelöhner dem Strom von Gerüchten und Neuigkeiten, von denen die Stadt die ganze Zeit schwirrte; nach und nach hatte ich mir ein Bild von der politischen Situation gemacht, die mir anfangs vollkommen unklar erschienen war. Das Parlament hatte die Macht, aber das Heer war nicht dessen gehorsames Werkzeug. König Karl, der den Kampf gegen das Parlament verloren hatte, hatte man in Hampton Court regelrecht gefangen gesetzt. Seine Anhänger organisierten sich im Westen – und auf dem Kontinent, wohin viele von ihnen geflüchtet waren. Der Bürgerkrieg war vorbei, doch manch einer war der Ansicht, dass er wieder aufflammen werde, wenn die Schotten ein Heer ausheben und gegen England marschieren würden. Und je größer die Bedrohung durch einen Krieg wurde und je länger das Parlament sich Zeit ließ, den unzufriedenen Soldaten ihren Sold zu zahlen, auf den sie seit Monaten warteten, desto größer war das Risiko, dass die militärischen Anführer die Macht in die eigenen Hände nahmen.
Im November überschlugen sich die Gerüchte, dass der König auf die Isle of Wight entkommen sei. Bald darauf wurde mehr bekannt: Seine Majestät war tatsächlich geflohen, aber der Kommandant der Burg Carisbrooke, die ihn hätte beherbergen sollen, hatte sich dem Parlament gegenüber als loyal erwiesen und den König verhaftet. Nun saß er dort. Einige amüsierten sich, andere bedauerten ihn, es gab sogar ein wenig Geschrei in den Straßen; aber das war nichts gegen die wütenden Unruhen, die am 25. Dezember in London begannen, weil das Parlament sämtliche traditionellen Weihnachtsscherze verboten hatte. Revolution oder nicht, gefeiert werden musste.
Meine beste Gerüchtebörse war und blieb jedoch der hinterste Tisch im Strawberry unter Swottles Nebelbänken aus Tabakrauch. Dort hörte ich auch eine Geschichte, bei der ich wirklich die Ohren spitzte. Ein Schreiber erzählte, dass man im Sommer bei Yarmouth einen Meermann aufgefischt hätte, der auf einem Kriegsschiff nach London gebracht worden sei. Vom Meeresgrund hätte er ein Wundermittel mitgebracht, das jegliche Schmerzen heilte, daher wurde er nun von Adligen, Geistlichen und den höchsten Führern von Heer und Parlament empfangen.
Der Meermann bin ich, dachte ich, und der Rest ist pure Erfindung. Es sollte mich lehren, nicht auf Gerüchte zu hören. So dachte ich damals.
Den Winter zu überstehen, war hart. Es schneite selten, aber es war fast schlimmer, wenn der schwere, kalte Regen meine Sachen durchweichte. Meine Strümpfe waren längst fadenscheinig und Pastor Strongworths Schuhe hielten sich kaum noch an meinen Füßen. Manchmal musste ich mir die Füße eine halbe Stunde und länger massieren, wenn ich unterwegs gewesen war.
Vielleicht ließ ich mich deshalb eines Abend von einem der Stammgäste im Strawberry überreden, ihm bei etwas zu helfen, das sich als widerwärtiger erwies, als ich gedacht hatte. Der Mann hatte einen schlechten Ruf, aber eine charmante Art. Er hieß Waring. Er kam zu mir, als ich einen Augenblick allein an meinem Tisch saß, und setzte sich mir gegenüber. Dann wies er mit den Augen auf einen Mann in einem Lederkoller und großen Stiefeln, der mit dem Rücken zu uns an einem anderen Tisch saß und seinen breiten Filzhut auf die Bank gelegt hatte. »Der da«, sagte Waring, »ist Leutnant und schuldet mir Geld, aber er will nicht bezahlen. Wenn du ihn hier rauslocken kannst, sobald ich gegangen bin, dann werde ich ihn draußen ein bisschen erschrecken. Sag ihm, was du willst, Hauptsache, du kommst mit ihm raus und dann rechts die Straße runter. Du bekommst fünf Schilling dafür.«
Fünf Schilling waren für mich der Lohn mehrerer Tage und ich schlug ein. Waring stahl sich hinaus, ohne dass der Leutnant ihn bemerkte, und ich setzte mich auf die Bank neben den Filzhut und hörte zunächst ein wenig zu. Der Leutnant erzählte von einer Wunde, die ihn bei schlechtem Wetter noch immer quälte, obwohl sie bereits seit langer Zeit verheilt sei. Das griff ich als Stichwort auf und begann, ihm von dem Meermann und seinem Wundermittel zu erzählen. »Ich weiß, wo er wohnt«, behauptete ich, »ich kenne ihn und kann ihn überreden, Euch etwas von seinem Elixier zu geben. Es ist ein wirklich mirakulöses Mittel, das kann ich beschwören.«
Der Leutnant hatte zunächst kein Interesse, doch dann biss er an. Wir standen auf und gingen hinaus, ich führte ihn nach rechts. Es war ziemlich dunkel und schon so spät, dass die Wirtshäuser ohnehin bald schlossen; ich sprach absichtlich laut, damit Waring uns kommen hörte.
Als wir an einer engen Gasse vorübergingen, sprang Waring plötzlich heraus und zog den Leutnant mit einem überrumpelnden Griff von hinten um den Hals mit sich. Ich hörte nur einige merkwürdig dumpfe Laute, eine Art Husten und das Geräusch eines Falls – und als ich mich umdrehte, sah ich den Leutnant in der Gasse auf dem Boden liegen; dunkles Blut strömte aus seinem durchgeschnittenen Hals. Waring hielt den zuckenden Körper fest, nahm ihm das Portemonnaie und den Degen ab und beugte sich dann über die Füße; er riss die Stiefel von dem sterbenden Mann und warf sie mir zu. »Nimm sie«, sagte er heiser, »du kannst sie gebrauchen, sie sind mehr wert als fünf Schilling.« Dann verschwand er am anderen Ende der Gasse.
Fassungslos blieb ich stehen, starr vor Schreck. Mitschuldig an einem Mord wegen eines Paars Stiefel – niemals würde ich die Füße hineinstecken können. Der Leutnant rührte sich nicht. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich strauchelnd in die entgegengesetzte Richtung davonstürzte, hinunter zum Fluss, zur Brücke, fort, fort, fort.
Waring zeigte sich in den nächsten Monaten nicht im Strawberry.
Als der Frühling kam, wurden die Tage natürlich länger und milder, aber der tägliche Kampf um die Arbeit noch schwieriger. Es hatte den Anschein, als ersticke die allgemeine Erwartung des Kriegs den größten Teil der Bautätigkeit und der Unternehmungslust bei den Leuten, die es sich leisten konnten, andere anzuheuern. Alle waren vorsichtig, wachsam und warteten ab. »Schlechte Zeiten«, war die Antwort, die ich nahezu überall zu hören bekam. Immer häufiger musste ich im Strawberry Zuflucht suchen. Mop freute sich jedes Mal, mich zu sehen, doch Mutter Swottle wurde zusehends unwilliger.
»John«, sagte sie eines Tages im April zu mir, »hier kannst du dich nicht länger herumtreiben, du wirst niemanden finden, der für dich bezahlt. Meld dich zum Heer, die bekommen bald wieder Geld, das Parlament kann auf sie nicht verzichten.«
»Meld dich lieber bei den Royalisten«, sagte Swottle mit einem bauernschlauen Gesichtsausdruck. »Der König kehrt bald zurück, dann ist es gut, auf seiner Seite zu stehen.«
»Das wird bei Gott nicht passieren!«, rief Bessie Swottle entrüstet. »Cromwell und Ireton sind viel zu stark für ihn, wart’s nur ab! Hast du nicht gerade gehört, wie sie die Lehrlinge und Lümmel abgewehrt haben, die Whitehall angreifen wollten? Sie haben die Reiterei geschickt. Zwei sind gestorben. Sie haben harte Fäuste, diese Herren. John, geh nach Whitehall und meld dich bei Oberst Barksteads Regiment, die haben Geld.«
»Ich kann nicht reiten.«
»Oberst Barksteads Regiment ist eine Infanterieeinheit, du Blödmann!«
Der Gedanke war neu für mich. Ich hatte keine Lust. Aber andererseits wusste ich nicht, wie ich mich weiterhin auf diese Weise durchschlagen sollte. Ich wusste, dass die Königstreuen schließlich den Sieg davontragen würden, doch bis dahin verging noch einige Zeit. Und das Parlamentsheer warb derzeit Leute an und hatte außerdem die Macht in London. Ich ging im Viertel spazieren und dachte nach. Ich hatte keinen besonderen Grund, eine Seite der anderen vorzuziehen, es ging darum, sich durchzulavieren und etwas zu finden, um seinen Lebensunterhalt zu sichern; außerdem vertraute ich Mutter Swottles politischem Instinkt mehr als dem ihres Mannes. Eine halbe Stunde ging ich immer wieder an denselben Fachwerkhäusern und stinkenden Toreinfahrten auf und ab, dann hatte ich einen Entschluss gefasst.
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