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Nicht abschließend geklärt ist, ob ein berechtigtes Interesse des Verletzten auch dann vorliegt, wenn dieser zivilrechtliche Ansprüche nicht gegen den Beschuldigten, sondern ausschließlich gegen Dritte– wie etwa eine vom Beschuldigten vertretene Gesellschaft – geltend macht. Jedenfalls bedarf es bei dieser „Drei-Personen-Konstellation“ einer besonders präzisen Prüfung der entgegenstehenden Interessen des Beschuldigten wie auch des (ggf. unbeteiligten) Dritten. Für den Fall, dass dem Verletzten Akteneinsicht gem. § 406e Abs. 1 StPO gewährt werden sollte, erscheint es zunächst naheliegend, dem Dritten – aus Gründen der Waffengleichheit – einen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht aus § 475 StPO zuzubilligen. Andererseits handelt es sich hier um einen weiteren Informationseingriff zu Lasten des Beschuldigten (und ggf. weiterer Betroffener), so dass auf eine eigenständige Prüfung der Voraussetzungen des Akteneinsichtsrechts des Dritten nicht verzichtet werden kann.
[1]
OLG Koblenz StV 1988, 332, 332; NStZ 1988, 89, 90; Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt Vor § 406d Rn. 2.
[2]
OLG Koblenz StV 1988, 332, 332 f. m.Anm. Schlothauer ; LG Stralsund StraFo 2006, 76, 76; LG Berlin BeckRS 2011, 09403; LR/ Graalmann-Scheerer § 172 Rn. 54.
[3]
Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt Vor § 406d Rn. 2.
[4]
OLG Hamm NStZ 1986, 327, 327; OLG Düsseldorf NStZ 1995, 49, 49; LG Mühlhausen wistra 2006, 76, 76; LG Stralsund StraFo 2006, 76, 76; LG Berlin BeckRS 2011, 09403.
[5]
LG Berlin BeckRS 2011, 09403 m.w.N.
[6]
OLG Stuttgart BeckRS 2013, 13426; diese Entscheidung wurde bestätigt durch BVerfG BeckRS 2016, 40532: Die angegriffenen Entscheidungen sind nicht willkürlich (Art. 3 Abs. 1 GG). Die eingrenzende Auslegung des Begriffs des von der Straftat Verletzten nach § 406e Abs. 1 StPO anhand des Schutzzwecks der – als verletzt unterstellten – Strafnorm ist eine in Rechtsprechung und Literatur gängige Differenzierung “.
[7]
OLG Hamburg wistra 2012, 397, 399.
[8]
OLG Frankfurt BeckRS 2017, 123986; Satzger/Schluckebier/Widmaier/ Schöch StPO, § 406e Rn. 1; Hilger NStZ 1988, 441.
[9]
Riedel/Wallau NStZ 2003, 393, 395 unter Hinweis auf § 16 Abs. 1 Nr. 2 BDSG.
[10]
LR/Hilger § 475 Rn. 5.
[11]
LG Frankfurt/Main StV 2003, 495, 495; LG Kassel StraFo 2005, 428, 428; Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt § 406e Rn. 3.
[12]
LR/ Hilger § 406e Rn. 6.
[13]
LG Hildesheim NJW 2009, 3799, 3800; HK-StPO/ Temmin g § 475 Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt § 406e Rn. 3.
[14]
LG Hamburg BeckRS 2009, 22518; Heintschel/ Stöckel § 406e Rn. 12; LR/ Hilger § 406e Rn. 7; Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt § 406e Rn. 3; Schlothauer StV 1988, 334, 335.
[15]
Heintschel-Heinegg/ Stöckel § 406e Rn. 12; anders Riedel/Wallau NStZ 2003, 393, 395 f., die zwar das berechtigte Interesse bejahen, im Rahmen der Interessenabwägung gem. § 406e Abs. 2 StPO von einem überwiegenden Interesse des Beschuldigten an der Geheimhaltung ausgehen.
[16]
SK-StPO/ Velten § 406e Rn. 13; Otto GA 1989, 289, 301 ff.
[17]
SK-StPO/ Velten § 406e Rn. 13.
[18]
OLG Koblenz StV 1988, 332; LG Hildesheim NJW 2008, 531, 534; LR/ Hilger § 406e Rn. 7.
[19]
OLG Koblenz StV 1988, 332.
[20]
Kümmel wistra 2014, 124, 128 f.
5. Kapitel Akteneinsicht› F. Das Akteneinsichtsrecht des Verletzten gem. § 406e Abs. 1 StPO› II. Versagungsgründe
II. Versagungsgründe
1. Entgegenstehen überwiegender schutzwürdiger Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen
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Gem. § 406e Abs. 2 S. 1 StPO ist die Akteneinsicht zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Ein Ermessen besteht hier nicht; die Akteneinsicht ist in diesen Fällen zwingendzu versagen. Der Grund für diese Regelung ist der folgende: Die Gewährung von Akteneinsicht in strafrechtliche Ermittlungsakten stellt stets einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die Auslegung und Anwendung des § 406e StPO hat sich daher an Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG zu orientieren. Dabei hat das Gericht, das über die Akteneinsicht entscheidet, die gegenläufigen Interessen des Verletzten und des Beschuldigten gegeneinander abzuwägen, um hierdurch festzustellen, welchem Interesse im Einzelfall der Vorrang gebührt.[1] Dabei ist gerade der Stand des Ermittlungsverfahrens im Lichte der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK in die Abwägung der Interessen bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht mit einzubeziehen. Das bedeutet: Steht das Ermittlungsverfahren am Anfang und hat der Beschuldigte selbst noch keine Akteneinsicht erhalten, ist ebenso wie in den Fällen der bereits erfolgten Einstellung des Verfahrens gem. § 170 Abs. 2 StPO, ein überwiegendes Interesse an der Gewährung der Akteneinsicht nicht zu begründen. Besonders schutzwürdige Interessen des Beschuldigten, die der Gewährung von Akteneinsicht in aller Regel entgegenstehen, sind etwa auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse.[2] Wie die Verwendung des Wortes „soweit“ in § 406e Abs. 2 S. 1 StPO deutlich macht, hindern die Versagungsgründe das Akteneinsichtsrecht nur, soweit sie ihm entgegenstehen. Deshalb ist stets zu prüfen, ob eine nur partielleAkteneinsicht gewährt werden kann. Bei gleichem Gewicht der einander gegenüberstehenden Interessen hat das Akteneinsichtsrecht des Verletzten Vorrang;[3] hier ist Akteneinsicht zu gewähren.
2. Sonstige Versagungsgründe
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Die Akteneinsicht kann – dieser Versagungsgrund ist somit fakultativ– gem. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint . Mit dieser (von § 147 Abs. 2 StPO abweichenden) Wortwahl hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass die Anforderungen an diesen Versagungsgrund gering sind.[4] Dieser liegt schon dann vor, wenn durch die Akteneinsicht die unbeeinflusste Wahrheitsfindung beeinträchtigt sein könnte.[5] Eine Versagung der Akteneinsicht kommt – anders als beim Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten aus § 147 StPO – auch nach Abschluss der Ermittlungen noch in Betracht.[6] Nach den Gesetzesmaterialien ist der Versagungsgrund der Gefährdung des Untersuchungszweckes insbesondere dann einschlägig, wenn die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. [7] Dies gilt auch für den Nebenkläger bzw. den zur Nebenklage Berechtigten.[8] Aus Gründen der Waffengleichheit ist dem Verletzten die Akteneinsicht jedenfalls solange zu verweigern, wie diese dem Beschuldigten nach § 147 Abs. 2 StPO verweigert wird.[9]
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Schließlich kann Akteneinsicht für den Verletzten gem. § 406e Abs. 2 S. 3 StPO auch versagt werden, wenn durch sie das Verfahren erheblich verzögertwürde. Dies gilt indes nicht, wenn die Staatsanwaltschaft in den in § 395 StPO genannten Fällen, d.h. im Fall der Nebenklage, den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat.
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