28
Ziel der Norm ist damit die Sicherstellung der sachgerechten Ausübung der Mitwirkungsrechte und Pflichtender Finanzbehörden in allen Stadien des Steuerstrafverfahrens (Ermittlungs-, Zwischen-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren) gem. §§ 403 Abs. 1, 2, 4, 407 Abs. 1 AO.[3] Nach der wohl überwiegenden Auffassung in der Literatur gilt dieses Recht auch nach der Beendigung des Verfahrens fort. Begründet wird diese „Ausdehnung“ des Akteneinsichtsrechts über den Abschluss des Verfahrens hinaus damit, dass das Akteneinsichtsrecht des § 395 AO „auch“ steuerlichen Interessendient; diese aber gerade erst nach dem Abschluss eines steuerstrafrechtlichen Verfahrens sinnvoll mit Blick auf eine ggf. erforderliche Nachbesteuerung oder die Festsetzung von Hinterziehungszinsen ausgeübt werden können.[4]
29
Für die Steuer- und Zollfahndungi.S.d. §§ 208, 404 AO gilt die Regelung des § 395 AO hingegen nicht.[5] Umstritten ist die Frage, ob § 395 AO auch steuerlichen Zweckendient. Mit guten Gründen kann dies angenommen werden, wenn die verkürzte Steuer festgesetzt und eingefordert werden soll.[6] In allen anderen Fällen sind die Finanzbehörden auf die in § 111 Abs. 1 AO geregelte Amtshilfe angewiesen. Ebenfalls nicht anwendbar ist § 395 AO in Bußgeldverfahren wegen des Vorwurfs einer Steuerordnungswidrigkeit. Hier erfolgt die Akteneinsicht ausschließlich gem. § 49 Abs. 2 OWiG, da § 410 Abs. 1 AO nicht auf § 395 AO verweist.[7]
30
Liegen die Voraussetzungen des § 395 S. 1 AO vor, so hat die Finanzbehörde einen Anspruchgegenüber der jeweils zuständigen Behörde (Staatsanwaltschaft/Gericht) auf die Gewährung der Akteneinsicht bzw. die Besichtigung amtlicher Beweismittel.
31
Bei der Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung,[8] auch müssen hierbei die Einschränkungen des § 147 Abs. 2 StPO unberücksichtigt bleiben, da die Finanzbehörde im Rahmen des § 395 AO als Strafverfolgungsorgantätig wird. Natürliche Grenzen der Befugnisse nach § 395 AO bestehen aber in Bezug auf den Zeitpunkt und die Dauer der Akteneinsicht. In zeitlicher Hinsicht wird der Anspruch durch die Erfordernisse eines zügigen Fortgangs des Verfahrens begrenzt.[9]
[1]
Vgl. speziell zur Akteneinsicht im Steuerstrafverfahren: Burkhard StV 2000, 526 ff.; Müller-Jacobsen/Peters wistra 2009, 458 ff.
[2]
Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 5; Hüls/Reichling/ Schork/Kauffmann § 395 Rn. 26.
[3]
Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 6.
[4]
So Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 17; wohl kritisch Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 5.
[5]
Schwarz/ Dumke § 395 Rn. 1; Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 20.
[6]
Vgl. Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 5; Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 6 m.w.N.
[7]
Schwarz/ Dumke § 395 Rn. 2a.
[8]
Joecks/Jäger/Randt/ Lipsky § 395 Rn. 6; Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 14. Hüls/Reichling/ Schork/Kauffmann § 395 Rn. 15.
[9]
Joecks/Jäger/Randt/ Lipsky § 395 Rn. 6.
5. Kapitel Akteneinsicht› E. Das Akteneinsichtsrecht der Finanzbehörden gem. § 395 AO› II. Das Recht auf Akteneinsicht
II. Das Recht auf Akteneinsicht
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Das Akteneinsichtsrecht der Finanzbehörde entspricht inhaltlich dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 Abs. 1 StPO[1] (vgl. dazu Rn. 7 ff.) und erstreckt sich im Rahmen des Ermittlungsverfahrens auf alle von der Staatsanwaltschaft geführten Akten i.S.d. § 199 Abs. 2 S. 2 StPO. Das Einsichtsrecht umfasst mithin sämtlicheVerfahrensakten, so dass hierunter auch etwaige Beiakten sowie Bild- und Tonaufnahmen fallen, soweit diese Aktenbestandteil geworden sind.[2] Die Einsicht in beigezogene Akten, die nicht Aktenbestandteil geworden sind, ist indes nur möglich, wenn der Antragsteller den Nachweis erbringt, dass die verfahrensführende Behörde der Einsichtnahme zugestimmt hat; Nr. 186 Abs. 3 S. 2 RiStBV. Ausgeschlossen von der Akteneinsicht sind damit lediglich Akten, deren Beiziehung angeordnet wurde, die tatsächlich aber nicht beigezogen wurden[3] und die staatsanwaltschaftlichen Handakten.[4]
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Das Recht auf Akteneinsicht selbst kann(Ermessen) durch die Behörde jederzeit und auch mehrfach ausgeübt werden, soweit dies für die sachgerechte Interessenwahrnehmung erforderlich ist. Die tatsächliche Ausübung der Akteneinsicht kann entweder „vor Ort“, d.h. in der Geschäftsstelle der verfahrensführenden Staatsanwaltschaft, oder im Wege der Übersendungder Akten, auf die gem. § 395 S. 2 AO ein Anspruch besteht, erfolgen. Macht die Finanzbehörde von ihrem Recht auf Übersendung Gebrauch, so hat sie in aller Regel nur dann einen Anspruch auf Überlassung der Originalakte, wenn sie ein entsprechendes Interesse glaubhaft darlegt;[5] anderenfalls muss sich die Behörde mit Kopien begnügen.
[1]
Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 9; Klein/ Jäger § 395 Rn. 1; Schwarz/ Dumke § 395 Rn. 6.
[2]
Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 22.
[3]
BGHSt 49, 317.
[4]
Meyer-Goßner/Schmitt/ Schmitt § 147 Rn. 13.
[5]
Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 27.
5. Kapitel Akteneinsicht› E. Das Akteneinsichtsrecht der Finanzbehörden gem. § 395 AO› III. Recht auf Besichtigung
III. Recht auf Besichtigung
34
Die Finanzbehörde darf Beweismittel oder anderweitig sichergestellte Gegenstände (§§ 94, 111b ff. StPO) gem. § 395 S. 1 AO besichtigen. Diese Besichtigung dient insbesondere der Wahrnehmung der Rechte der Finanzbehörden im Zusammenhang mit der Anordnung des Verfalls (§§ 73 ff. StGB) und der Einziehung (§ 375 Abs. 2 AO, §§ 74 ff. StGB).[1] Ferner wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass die Besichtigung auch im steuerlichen Interesse erfolgen kann, weil entsprechende Gegenstände der Sachhaftung unterliegen können (§ 76 AO) oder die Sicherstellung und Überführung in das Eigentum des Bundes in Betracht komme (§§ 215, 216 AO).[2] Ob dies dem Regelungszweck des § 395 AO entspricht, erscheint hingegen fraglich.
[1]
Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 20.
[2]
Hübschmann/Hepp/Spitaler/ Hellmann § 395 Rn. 28; a.A. Kohlmann/ Hilgers-Klautzsch § 395 Rn. 20.
5. Kapitel Akteneinsicht› E. Das Akteneinsichtsrecht der Finanzbehörden gem. § 395 AO› IV. Verfahren und Rechtsschutz
IV. Verfahren und Rechtsschutz
35
Die Beantragung der Gewährung der Akteneinsicht kann formlosdurch einen Antrag der Finanzbehörde erfolgen. Zu stellen ist dieser Antrag im Ermittlungsverfahren bei der zuständigen Staatsanwaltschaft. Im Zwischen- und Hauptverfahren muss der Antrag an den Vorsitzenden des zuständigen Gerichts gerichtet werden (§§ 147 Abs. 5 S. 1, 478 Abs. 1 S. 1 StPO). Das Gleiche gilt im Strafbefehlsverfahren, wenn der Antrag auf Erlass des Strafbefehls bereits bei Gericht eingegangen ist; § 407 Abs. 1 StPO.
36
Wird der Antrag durch die Staatsanwaltschaft abgelehnt (zu den Formalien vgl. Nr. 188 RiStBV), so besteht die Möglichkeit, hiergegen mit der Dienstaufsichtsbeschwerdevorzugehen.[1] Ist diese nicht erfolgreich, so soll auch die ablehnende Entscheidung der Staatsanwaltschaft der gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden können.[2] Erfolgt die Ablehnung hingegen durch den Vorsitzenden des Gerichts, so besteht die Möglichkeit der Beschwerdegem. § 304 StPO. Die Frage, ob es dem Beschuldigten möglich ist, die Gewährung der Akteneinsicht anzufechten, hat kaum praktische Bedeutung, da er in den seltensten Fällen „rechtzeitig“ von der geplanten Gewährung der Akteneinsicht erfahren wird.[3] Ist dies hingegen doch einmal der Fall, so besteht nach zutreffender Ansicht die Möglichkeit, die Entscheidung über die Gewährung vor deren tatsächlicher Umsetzung mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 161a Abs. 3 S. 2–4 StPO anzufechten.
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