191
Darüber hinaus fehlt das Rechtschutzbedürfnis auch dann, wenn ein Rechtsbehelf in der Hauptsache bereits verfristetund der Verwaltungsakt damit bestandskräftig geworden ist. Denn der Antragsteller darf nicht besser gestellt werden als in der Hauptsache[3].
192
In der Praxis wird der Antrag auf Anordnung/Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung häufig parallel zur Anfechtungsklage gestellt. Gemäß § 80 Abs. 5 S. 2 VwGOkann der Antrag aber bereits vor Einlegung des Rechtsbehelfs in der Hauptsache gestellt werden. Rechtsbehelf in der Hauptsache sind sowohl die Anfechtungsklage als auch – sofern nach Landesrecht noch statthaft (s.o. Rn. 88) – ein Widerspruch[4]. Erfasst wird aber lediglich der Zeitpunkt der Antragstellung. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung muss hingegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache eingelegt worden sein. Denn anderenfalls fehlt das auslösende Moment für die aufschiebende Wirkung, und dem Gericht läge nichts vor, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet oder wiederhergestellt werden könnte[5].
[1]
Zu den Ausnahmen nach § 80 Abs. 6 S. 2 VwGO Kopp/Schenke , VwGO, 26. Aufl. 2020, § 80 Rn. 186.
[2]
Schenke , VwProzR, 17. Aufl. 2021, Rn. 1074.
[3]
Hufen , VwProzR, 11. Aufl. 2019, § 32 Rn. 35.
[4]
Kopp/Schenke , VwGO 26. Aufl. 2020, § 80 Rn. 139.
[5]
Ziekow , in: Sodan/Ziekow, GK ÖR, 9. Aufl. 2020, § 106 Rn. 11.
3. Besonderheiten in der Dreipersonenkonstellation – Fall des § 80a Abs. 1 VwGO
193
Im Drei-Personen-Verhältnis, also in der Beziehung Behörde-Begünstigter-Belasteter, ist die Sache komplizierter. Es sind zwei Fälle zu unterscheiden: der Fall des § 80a Abs. 1 VwGO und der des § 80a Abs. 2 VwGO. Bei beiden Fällen spielt § 80a Abs. 3 VwGO eine Rolle; in dieser Norm sind die Handlungsmöglichkeiten des Gerichts aufgezählt.
Schaubild: Fälle des § 80a Abs. 3 iVm § 80a Abs. 1 VwGO – Grundfall
Grundfall:A erhält von der zuständigen Behörde die Erlaubnis zum Betrieb einer Gaststätte. Nachbar C ist der Auffassung, die Erlaubnis verletze ihn in seinen Rechten. |
Rechtsgrundlage des Antrags: |
C legt Widerspruch ein. A‘s Antrag (entbehrlich, str.) auf Anordnung der sofortigen Vollziehung der Erlaubnis (§ 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO) lehnt die Behörde ab. A beantragt beim VG die Anordnung der sofortigen Vollziehung seiner Erlaubnis. |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 3 („Maßnahmen treffen“) iVm § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO |
C legt Widerspruch ein. Auf A‘s Antrag ordnet die Behörde die sofortige Vollziehung von A‘s Erlaubnis an (§ 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO). |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 2 VwGO („aufheben“ der Anordnung nach § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO) |
C beantragt beim VG, die Vollziehung auszusetzen. |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 2 („Maßnahmen treffen“) iVm § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO |
Schaubild: Fälle des § 80a Abs. 3 iVm § 80a Abs. 1 VwGO – Varianten
Variante zum Grundfall:Die Erlaubnis des A wird mit Erlass für sofort vollziehbar erklärt, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. |
Rechtsgrundlage des Antrags: |
C legt Widerspruch ein und beantragt bei der Behörde, die Vollziehung auszusetzen, § 80a Abs. 1 Nr. 2 iVm § 80 Abs. 4 VwGO. Mit Erfolg. Antrag des A beim VG, die Aussetzung der Vollziehung aufzuheben. |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 2 VwGO („aufheben“ der Anordnung nach § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO) |
C legt Widerspruch ein und beantragt (entbehrlich, str.) bei der Behörde, die Vollziehung auszusetzen (§ 80a Abs. 1 Nr. 2 iVm § 80 Abs. 4 VwGO). Der Antrag wird abgelehnt. C beantragt beim VG, die Vollziehung auszusetzen. |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 3 VwGO („Maßnahmen treffen“) iVm § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO |
Variante zum Grundfall:C erhebt Widerspruch. A wartet ab. Der Widerspruch des C ist erfolglos. |
Rechtsgrundlage des Antrags: |
C erhebt Anfechtungsklage. A will das Verfahren nicht abwarten und stellt bei der Behörde den Antrag, die sofortige Vollziehung anzuordnen (entbehrlich, str.). Erfolglos. A beantragt beim VG die Anordnung der sofortigen Vollziehung. |
§ 80a Abs. 3 S. 1 Fall 3 VwGO („Maßnahmen treffen“) iVm § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO |
C erhebt Anfechtungsklage. A will das Verfahren nicht abwarten und stellt bei der Behörde den Antrag, die sofortige Vollziehung anzuordnen. Mit Erfolg. C beantragt beim VG, die Vollziehung auszusetzen. |
§ 80a Abs. 3 Satz 1 Fall 2 VwGO („aufheben“) iVm § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO |
194
Ein Zweifelsfall liegt vor, wenn C erfolgreich Widerspruch erhebt und A daraufhin isolierte Anfechtungsklage auf Aufhebung des Widerspruchsbescheids erhebt. Hier ist fraglich, ob A die sofortige Vollziehung der Genehmigung beantragen kann. Dies ist zu bejahen: Die Genehmigung ist durch den Widerspruch des C noch nicht bestandskräftig geworden; auch über den Widerspruchsbescheid ist durch die Klage noch nicht abschließend entschieden worden. A muss deshalb die Möglichkeit zur Erlangung vorläufigen Rechtsschutzes eingeräumt werden nach § 80a Abs. 3 Fall 3 iVm § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Die Statthaftigkeit des Antrags und die besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen sind wie zuvor zu prüfen.
4. Besonderheiten in der Dreipersonenkonstellation – Fall des § 80a Abs. 2 VwGO
195
Ist jemand Adressat eines belastenden Verwaltungsakts, der einen Dritten begünstigt, § 80a Abs. 2 VwGO, ergeben sich gleichfalls mehrere Konstellationen.
Schaubild: Fälle des § 80a Abs. 3 iVm § 80a Abs. 2 VwGO – Beispiel
Grundfall:A ist bereits Gastwirt. Wegen der in letzter Zeit zunehmenden Lärmbelästigung beschwert sich Nachbar C bei der zuständigen Behörde. Diese erlässt eine „Auflage“ (= Verwaltungsakt) nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 GastG. |
Rechtsgrundlage des Antrags: |
A legt Widerspruch ein. C stellt bei der Behörde den Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80a Abs. 2 VwGO. Mit Erfolg. A stellt beim VG den Antrag, die Anordnung der sofortigen Vollziehung aufzuheben. |
§ 80a Abs. 3 Satz 1 Fall 2 VwGO („aufheben“) iVm § 80a Abs. 2 VwGO |
A legt Widerspruch ein. C stellt bei der Behörde den Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80a Abs. 2 VwGO. Ohne Erfolg. C stellt beim VG den Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung. |
§ 80a Abs. 3 Satz 1 Fall 3 VwGO („Maßnahmen treffen“) iVm § 80a Abs. 2 VwGO |
Variante zum Grundfall: Die Auflage der Behörde wird für sofort vollziehbar erklärt. A stellt bei der Behörde den Antrag, die sofortige analoge Vollziehung auszusetzen (§ 80 Abs. 4 VwGO). Mit Erfolg. |
Der Fall ist gesetzlich nicht geregelt; C kann beim VG den Antrag stellen, die Aussetzung der sofortigen Vollziehung aufzuheben: Anwendung des § 80a Abs. 3 Satz 1 Fall 3 VwGO („Maßnahmen treffen“). |
196
Wegen der vielen Möglichkeiten ist es schwer, die genaue Rechtsgrundlage des gestellten Antrags zu benennen. Viele Bearbeiter*innen helfen sich dadurch, indem sie ungenau arbeiten: „Antrag nach § 80a Abs. 3 VwGO“. Das wird nicht nur der Korrektor kritisch vermerken, sondern führt oft auch zu abwegigen Lösungen, weil das Beziehungsgeflecht der Beteiligten nicht exakt ermittelt wurde. In der Klausurist zu empfehlen, sich als erstes die Beziehungen der Beteiligten genau klarzumachen. Gegebenenfalls kann dazu eine Skizze dienen. Der gestellte Antrag sollte genau ermittelt und zitiert werden. Beispiel: Antrag nach § 80a Abs. 3 S. 1 letzter Fall iVm § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO iVm § 80 Abs. 5 S. 1, 2. Alt. VwGO. Anschließend sind die besonderen Sachantragsvoraussetzungen herauszuarbeiten. Wie bei allen Fällen mit Drittbeteiligung, ist auch die Antragsbefugnis sorgfältig zu prüfen. Die Streitigkeit, ob vor dem Antrag bei Gericht zunächst ein Antrag bei der Behörde zu stellen ist, darf nicht überbewertet werden. Meist wird die Klausur so konzipiert sein, dass ohne Schwierigkeiten weiter geprüft werden kann. Im Zweifel ist der Lösung Vorzug einzuräumen, die zur Zulässigkeit des Antrags führt.
Читать дальше