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Daher liegt in Streitigkeiten zwischen einem Bürger und einem Verwaltungsträger, welche regelmäßig verwaltungsrechtlichen Klausurenzugrundliegen, keine verfassungsrechtliche Streitigkeit vor. Denn selbst wenn der Bürger sich primär auf eine Verletzung seiner Grundrechte beruft und damit das inhaltliche Element erfüllt ist, handelt es sich beim Bürger um keinen unmittelbar am Verfassungsleben beteiligten Rechtsträger. Ebenso wenig ist der Kommunalverfassungsstreit ein Streit über Verfassungsrecht, sondern ein Streit über Normen des Kommunalrechts[2].
[1]
Statt vieler Hufen , VwProzR, 11. Aufl. 2019, § 11 Rn. 49 mwN; Ziekow , in: Sodan/Ziekow, GK ÖR, 9. Aufl. 2020, § 94 Rn. 15; krit. Schenke , VwProzR. 17. Aufl. 2021, Rn. 142 f.
[2]
Statt vieler Burgi , Kommunalrecht, 6. Aufl. 2019, § 14 Rn. 7.
4. Keine abdrängende Sonderzuweisung
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Liegt eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vor, muss abschließend untersucht werden, ob dieser Streit durch Bundes- (§ 40 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 VwGO) oder Landesrecht (§ 40 Abs. 1 S. 2 VwGO) einem anderen Gericht zugewiesen ist. Damit ist die so genannte abdrängende Sonderzuweisung angesprochen. Mit dem anderen Gericht ist ein anderer Gerichtszweig gemeint: ordentliche Gerichtsbarkeit, Sozial-, Finanz- und Arbeitsgerichtsbarkeit.
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Abdrängende Sonderzuweisungen sind teilweise auf dem Gebiet des Verfassungsrechts anzutreffen, vor allem aber im Verwaltungsrecht. Zu den für die Klausurbearbeitung bedeutsamen abdrängenden Sonderzuweisungengehören:
– |
Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG (Ansprüche wegen Enteignungsentschädigung), |
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Art. 34 S. 3 GG (Amtshaftungsansprüche), |
– |
§ 40 Abs. 2 S. 1 Var. 1 VwGO (Ansprüche aus Aufopferung für das Gemeinwohl) |
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§ 40 Abs. 2 Var. 2 VwGO (Ansprüche aus öffentlich-rechtlicher Verwahrung) |
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§ 40 Abs. 2 Var. 3 VwGO (Ersatzansprüche wegen Verletzung öffentlich-rechtlicher Pflichten)[1], |
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§ 49 Abs. 6 S. 3 VwVfG (Entschädigungsansprüche nach Widerruf). |
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Abdrängende Sonderzuweisungen sind besonders häufig im Polizei- und Ordnungsrecht anzutreffen. Neben einigen abdrängenden Sonderzuweisungen im Rahmen der Standardmaßnahmen[2] ist hier insbesondere § 23 EGGVGbedeutsam: Wird die Polizei nicht präventiv zum Zwecke der Gefahrenabwehr tätig, sondern gemäß § 163 StPO repressiv zum Zwecke der Strafverfolgung, so sind nach dieser Bestimmung die ordentlichen Gerichte zuständig. Ein Schlüsselbegriff im Rahmen der abdrängenden Sonderzuweisung ist der Begriff des „Justizverwaltungsakts“. Wie aus der Formulierung „Anordnungen, Verfügungen oder sonstige Maßnahmen“ deutlich wird, erfasst der Begriff auch tatsächliche Maßnahmen ohne entsprechende Regelungswirkung und ist damit weiter auszulegen als der Begriff des Verwaltungsakts iSd § 35 VwVfG[3]. Ist hier keine Trennung der Maßnahmen möglich, handelt es sich also um doppelfunktionale Maßnahmen, bestimmt sich der Rechtsweg nach überwiegender Ansicht nach dem Schwerpunkt[4]. Die besseren Gründe sprechen allerdings dafür, solche doppelfunktionalen Maßnahmen an beiden Rechtsgrundlagen zu bemessen[5]. Dies führt in prozessualer Hinsicht folgerichtig zu einem Nebeneinander der Rechtswege[6]. Bedeutsam werden die strafprozessualen Anforderungen aber grundsätzlich erst dann, wenn es um die Verwertbarkeit präventiv-polizeilicher Erkenntnisse im Strafverfahren geht[7].
[1]
Zu beachten ist hier die Gegenausnahme für Streitigkeiten aus öffentlich-rechtlichen Verträgen (s.o. Rn. 49).
[2]
Beispiel bei Siegel , in ders./Waldhoff, ÖR in Berlin, 3. Aufl. 2020, § 3 Rn. 203 (Ingewahrsamnahme nach § 31 ASOG Bln).
[3]
Kugelmann , POR, 2. Aufl. 2012, 1. Kap. Rn. 70 f.
[4]
Kingreen/Poscher , POR, 11. Aufl. 2020, § 2 Rn. 14 mwN.
[5]
Schoch , in: ders. (Hrsg.), BesVerwR, Kap. 1 Rn. 21.
[6]
Schoch , in: ders. (Hrsg.), BesVerwR, Kap. 1 Rn. 22; BGH, NJW 2017, 3173 (3176 f.); krit. hierzu Lenk , NVwZ 2018, 38 ff.
[7]
BGH, NJW 2017, 3171 (3176 f.).
5. Rechtsweg kraft Sachzusammenhangs und Rechtswegverweisung
55
Eine Besonderheit im Zusammenhang mit Fragen des Verwaltungsrechtswegs stellen die §§ 17 Abs. 2 und 17a GVG dar. § 17 Abs. 2 GVG regelt den Fall, dass ein Begehren nach verschiedene Anspruchsgrundlagen entschieden werden kann und für die verschiedenen Anspruchsgrundlagen unterschiedliche Rechtswege eröffnet sind. Das auf einem zulässigen Rechtsweg angerufene Gericht muss den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten entscheiden. Genau genommen handelt es sich bei § 17 Abs. 2 GVG nicht um eine Rechtswegverweisung. Die Literatur behandelt die Norm regelmäßig unter dem Stichwort „Rechtsweg kraft Sachzusammenhangs“.
Beispiel:
Klage eines Beamten gegen seinen Dienstherrn auf Schadenersatz wegen rechtswidrigen Verhaltens. Anspruchsgrundlagen: Verletzung der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, § 45 BeamtStG – Rechtsweg nach § 54 Abs. 1 BeamtStG: Verwaltungsgericht, und Amtshaftungsanspruch, § 839 BGB iVm Art. 34 GG – ordentlicher Rechtsweg nach Art. 34 Satz 3 GG.
56
Das angerufene ordentliche Gericht muss im Beispielsfall nach beiden Anspruchsgrundlagen entscheiden. Wird das Verwaltungsgericht angerufen, prüft es nur den Anspruch nach § 45 BeamtStG; wegen der Ausnahmevorschrift § 17 Abs. 2 S. 2 GVG ist dem Verwaltungsgericht die Prüfung des Amtshaftungsanspruchs verwehrt. Derartige Fälle dürften selten in der Verwaltungsrechtsklausur gestellt werden; denkbar ist es ohne weiteres, Anwaltsklausuren mit entsprechendem Sachverhalt zu konstruieren. Erinnert werden muss in diesem Zusammenhang daran, dass § 17 Abs. 2 GVG nur relevant ist, wenn einStreitgegenstand nach unterschiedlichen Rechtsnormen zu beurteilen ist. Wenn über mehrereStreitgegenstände aus demselben Sachzusammenhang stammend zu befinden ist, muss für jeden Gegenstand gesondert der Rechtsweg geprüft werden[1].
57
Von größerer praktischer Bedeutung dürften Fälle sein, in denen § 17a Abs. 2 GVG zur Anwendung kommt. Diese Norm erfasst die Sachverhalte, in denen ein objektiv fälschlicherweise angerufenes Gericht eine Sache an das Gericht des zulässigen Rechtswegs verweist. Dieses Gericht ist an die Verweisung gebunden, § 17a Abs. 2 S. 3 GVG.
Beispiel:
Das unzuständige Amtsgericht verweist eine Sache an das zuständige Verwaltungsgericht.
Schaubild: Die Prüfung des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO
Erster Schritt: |
Aufdrängende Sonderzuweisung?→ es ist nach einer einschlägigen Norm zu suchen |
Antwort „ja“:Prüfung beendet |
Antwort „nein“:zweiter Schritt |
Zweiter Schritt: |
Öffentlich-rechtliche Streitigkeit?→ es ist nach den Theorien zur Abgrenzung des öffentlichen vom privaten Recht zu entscheiden |
Antwort „ja“:dritter Schritt |
Antwort „nein“:Prüfung beendet |
Dritter Schritt: |
Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art?→ es ist nach der Lehre von der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit zu entscheiden |
Antwort „ja“:vierter Schritt |
Antwort „nein“:Prüfung beendet |
Vierter Schritt: |
Abdrängende Sonderzuweisung?→ z.B. Art. 14 Abs. 3 GG; § 51 SGG |
Antwort „ja“:Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet |
Antwort „nein“:Verwaltungsrechtsweg eröffnet |
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