Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe haben in ihren institutionellen Arbeitszusammenhängen und fachlichen Kooperationen drei große Aufgaben:
■Zunächst müssen sie Infrastruktur gestalten, also Angebote und Einrichtungen z. B. der Jugendarbeit und Kindertagesbetreuung oder für Familienbildung und Beratung so entwickeln und betreiben, dass ein „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002; Schrapper 2013a) für alle Kinder eines Gemeinwesens gelingen kann.
■dann müssen die Fachkräfte die Ansprüche von Eltern und Kindern auf konkrete Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch VIII, dem Kinder- und Jugendhilfegesetz prüfen, konkretisieren und entscheiden. Bei diesen individuellen Leistungsansprüchen geht es vor allem um die „Hilfen zur Erziehung“ (§§ 27 ff. SGB VIII) und die Eingliederungshilfen für junge Menschen mit „seelischen Behinderungen“ (§ 35a SGB VIII).
■Und nicht zuletzt müssen sie Schutz für Kinder gewährleisten und hierfür ggf. notwendige Eingriffe begründen und vor dem Familiengericht durchsetzen.
Für die Aufgaben der Gestaltung einer förderlichen Infrastruktur sind differenzierte Kenntnisse der Lebenslagen sowie der Bildungs- und Freizeitbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen (Jugendarbeit) oder der Unterstützungsbedürfnisse von Familien (Kindertagesbetreuung) erforderlich. Schon dafür sind zusammenfassende Analysen konkreter Lebensverhältnisse in Wohnquartieren und für Zielgruppen junger Menschen und ihrer Familien – z. B. Familien mit einem Elternteil, junge Menschen aus Migrationsfamilien –erforderlich, damit Angebote und Leistungen sich gut auf spezielle Interessen, Erfordernisse und Bedingungen einstellen können.
Für die Aufgaben der individuellen Leistungsprüfung ebenso wie für die Gewährleistung von Schutz müssen sich Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe zudem intensiv mit der konkreten Lebenssituation, den Anliegen und Interessen sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Hilfe und ggf. auch Eingriff befassen.
... und der Auftrag
Diese Kernaufgaben erfordern eine fundierte sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen und sind wesentliches Element der sozialpädagogischen Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie beziehen sich immer auf eine besondere Konstellation von Rechten und Pflichten im Dreieck Kind / Jugendlicher – Eltern – Staat.
Abb. 1: Der normative Rahmen für Leistungen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe
In dem skizzierten Dreiecksverhältnis ( Abb. 1) haben Kinder nur Rechte: das Recht auf Achtung ihrer Würde, das Recht auf Entfaltung und Entwicklung, das Recht auf Leben und Unversehrtheit und vor allen Dingen auch das Recht auf Eltern, die gut für sie sorgen (vgl. Britz 2016). Dies ist die Vorstellung unseres Grundgesetzes, und demnach ist es zu kurz gedacht, das Verhältnis von Kinderrecht und Elternrecht alleine auf den Artikel 6 GG (Erziehung und Versorgung sind das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht) zu beziehen. Erst die Artikel 1 (unveräußerliche Würde), Artikel 2 (freie Entfaltung und Entwicklung jedes Menschen) und Artikel 6 zusammen ergeben ein Gesamtbild von Rechten und Pflichten für ein gelingendes Aufwachsen in der Verantwortung von Eltern und staatlicher Gemeinschaft.
Elternrechte und -pflichten
Eltern haben Rechte und Pflichten. Sie haben ebenso wie die Kinder das Recht auf Achtung ihrer Würde und auf Entfaltung, vor allem auf Respekt vor ihrem Lebensentwurf, Eltern zu sein, Familie zu gestalten und Kinder großzuziehen. Und das Recht auf förderliche gesellschaftliche Bedingungen wie zum Beispiel Kindertagesbetreuung. Eltern haben außerdem ein Recht auf individuelle Unterstützung, wenn sie es für erforderlich halten und wenn es nötig ist. Sie haben auf der anderen Seite die Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Das ist die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Im 2021 reformierten SGB VIII sind die Rechte von Kindern/Jugendlichen und Eltern deutlich gestärkt worden, so dass die staatliche Gemeinschaft darüber wacht, dass es ihren Kindern gut geht.
Pflichten des Staates
Der Staat hat nur Pflichten – um in diesem schlichten Bild zu bleiben. SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen sind dabei nicht alleine für die Pflichterfüllung einer wachsamen staatlichen Gemeinschaft zuständig, aber sie sind in der Kinder- und Jugendhilfe an zentraler Stelle mit verantwortlich.
Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung
Mit Blick auf Kinder und Jugendliche, Mädchen und Jungen geht es zuerst um individuell zu unterstützende Prozesse von Erziehung und Bildung – also darum, welche Bilder sich Kinder von sich selbst und von der Welt aneignen konnten bzw. ihnen von Erwachsenen vermittelt wurden. Denn diese Konstrukte von Selbst (Identität) und Welt sind zentrale Anknüpfungspunkte für (sozial-)pädagogische Angebote und Leistungen der „Hilfe zur Erziehung“ für Eltern ebenso wie für eine Unterstützung und Förderung der Selbstbildung junger Menschen.
Dann geht es um die Eltern, ihre Vorstellungen und ihre Praxis sowie um ihre Rechte und Erwartungen an Unterstützung, aber auch um ihre Pflichten und ggf. um die Zumutung, staatliche Kontrolle zuzulassen.
Und immer geht es in der Kinder- und Jugendhilfe um „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002), also um die Frage, was muss in öffentlicher Verantwortung getan werden, damit Aufwachsen gelingt. Grundsätzlich können hierfür die drei erwähnten Zugänge unterschieden werden: (1) Infrastruktur gestalten wie z. B. die Ausstattung eines Gemeinwesens mit ausreichenden Angeboten der Kindertageseinrichtungen und der Jugendarbeit, (2) Angebote bereithalten zu spezifischen Themen und für bestimmte Zielgruppen (z. B. Erziehungsberatung und Familienbildung) und (3) für konkrete Kinder und Eltern zuständig werden. Um letztere geht es beim Fallverstehen und der Diagnostik in besonderer Weise, also um konkrete Kinder und Eltern, aber immer in Bezug zu den beiden anderen Zugängen, denn Jugendhilfe „wirkt nur als Ganzes gut“ ( Abb. 2). Und auch die Leistungen der Jugendhilfe für konkrete Kinder und Eltern stehen immer im Zusammenhang mit dem, was auch Jugendhilfe für ein gutes Aufwachsen dieser Kinder z. B. schon in Kita oder Jugendarbeit tut. Der dritte Zugang, also zu jungen Menschen und ihren Familien mit Belastungen und in Krisen oder Not, wird üblicherweise im Rahmen der Fallarbeit umgesetzt, in denen schwierige Lebenslagen und Lebenssituationen als Fall konstruiert werden.
Abb. 2: Jugendhilfe wirkt nur als Ganzes gut
Der professionelle Nachweis fundierter Urteilsfähigkeit
Fachkräfte treffen weitreichende Entscheidungen
Sozialpädagogische Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe sind im Rahmen der skizzierten gesetzlichen Aufgaben und Aufträge – gerade in der Einzelfallarbeit – gefordert, Einschätzungen zu treffen, die in mehrfacher Hinsicht folgenreich sind: Sie begründen oder verweigern sozialstaatliche Leistungen, sie ermöglichen Schutz vor Gefahr und Bedrohung oder lösen massive Eingriffe in die Privatsphäre von Menschen aus. Nicht selten sind alle genannten Aspekte sozialpädagogischer Einschätzungen komplex und manchmal auch widersprüchlich miteinander verwoben, auf jeden Fall aber haben die getroffenen Beurteilungen weitreichende Folgen. Der Frage des professionellen Verstehens und der Diagnostik kommt somit in der Fallarbeit eine zentrale Bedeutung zu. Die sozialpädagogische Profession ist in den vergangenen Jahren so häufig wie nie zuvor damit konfrontiert worden, dass ihre Urteilsfähigkeit strafrechtlich überprüft wurde. Im Rahmen der in vielen Professionen üblichen Berufshaftung mussten auch sozialpädagogische Fachkräfte erleben, dass sie für Fehleinschätzungen haftbar gemacht werden können, wenn andere Menschen dadurch zu Schaden oder gar zu Tode kommen.
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