Fälle bearbeiten als zentrale Aufgabe
Fälle (i.S. erkannter Hilfebedarfe) zu bearbeiten ist die wesentliche Aufgabe und Tätigkeit derjenigen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, die vor allem mit den sogenannten Hilfen zur Erziehung und Fragen des Kinderschutzes befasst sind, die also in den Sozialen Diensten der Jugendämter arbeiten (im Allgemeinen Sozialen Dienst oder den Pflegekinderdiensten) oder in ambulanten Diensten wie der sozialpädagogischen Familienhilfe oder in Heimen tätig sind. Aber auch in anderen Feldern wie der Jugendhilfe im Strafverfahren (ehemals Jugendgerichtshilfe), in Beratungsdiensten, der Jugendberufshilfe etc. geht es oftmals darum.
Fälle, so unser fachliches Verständnis, sind ein komplexes und kompliziertes Bedingungsgefüge: einerseits immer geprägt durch eine aktuelle, meist akute Problemlage, in der seitens der Fachkräfte ebenso Anliegen und Anfragen aufzunehmen sind, wie Zuständigkeiten zu klären und Zugänge zu finden. Andererseits verweisen schon erste Gespräche, Informationen und Eindrücke auf Vorgeschichten und Hintergründe, sowohl in den Lebensgeschichten von Kindern oder Jugendlichen als auch von ihren Müttern und Vätern bzw. Bezugspersonen. Und sie verweisen auf Vorgeschichten und Erfahrungen mit der Notwendigkeit, sich helfen lassen zu müssen, unterstützt zu werden und / oder Eingriffe in das familiäre Leben zulassen zu müssen.
Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich auch dadurch aus, dass sowohl konkret als auch grundlegend Entscheidungen getroffen und begründet werden müssen, die meist tief in das Leben der AdressatInnen eingreifen. Entschieden werden muss über Leistungsansprüche, über die konkrete Gestaltung von Unterstützung, aber auch über Eingriffe in elterliche Rechte, wenn dies zum Schutz ihrer Kinder erforderlich erscheint. Damit sind diese Entscheidungen über Hilfeangebote ebenso wie über Eingriff und Kontrolle zumeist weit über den Augenblick hinaus folgenreich für Entwicklungschancen und Lebensperspektiven der betroffenen jungen Menschen.
hochkomplexe Fallkonstellationen als Gegenstand
Hochkomplexe Fallkonstellationen entscheidungsorientiert zu bearbeiten, auf diese spezifische Herausforderung nicht aller, aber vieler Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ist unser Konzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik ausgerichtet. Konzeptionell und methodisch werden dabei, im Unterschied zu anderen vorliegenden Ansätzen, die institutionelle Eingebundenheit und organisatorische Verfassung Sozialer Arbeit sowie die Beziehungsdimension sozialpädagogischen Handelns bewusst mitgedacht und methodisch berücksichtigt. Grundsätzlich gehen wir dabei theoretisch davon aus,
■dass es die Diagnostik für die Soziale Arbeit nicht geben kann und wird,
■dass es übergreifende, disziplinäre Gütekriterien für die Prozesse des Verstehens und Diagnostizierens geben sollte (vgl. Heiner 2001),
■dass handlungsfeldspezifische und kontextbezogene Konzepte sowie methodische Instrumente benötigt werden, wobei letztere in unterschiedlichen Handlungsfeldern Anwendung finden können.
konkreter Fall als zentraler Bezugspunkt
Wir haben uns entschieden, das Buch induktiv anzulegen, vom Konkreten zum Allgemeinen. Aus diesem Grund wird im ersten Kapitel ein konkreter Fall vorgestellt, in dem es um eine Familie in einer Krisensituation geht und sich die Frage stellt, ob die Kinder dort ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen und ihren Entwicklungsprozess haben oder ob das Kindeswohl gefährdet ist und Fragen des Kinderschutzes in den Mittelpunkt der Fallbearbeitung rücken müssen. Genau dies ist, in unterschiedlichen fallspezifischen Variationen, immer der Ausgangspunkt für die Arbeit von Fachkräften, wenn es um Einzelfälle in der Kinder- und Jugendhilfe geht, insbesondere in den erzieherischen Hilfen. Auf den dargestellten Fall wird an verschiedenen Stellen des Buches Bezug genommen, insbesondere in Kapitel 3, in dem wir eine sozialpädagogische Diagnostik im Sinne von Hypothesenbildung zum Fall Schritt für Schritt methodisch entwickeln.
grundlegende Fragen des Erkenntnisgewinns
Im Anschluss an die fallbezogene Darstellung rückt Kapitel 2zunächst zwei grundlegende Fragen fallanalytischer Prozesse in den Fokus. Zum einen geht es darum, wie der Verlauf der professionellen Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Sozialen Arbeit generell erfolgt. Zum zweiten geht es neben diesen erkenntnistheoretischen Grundfragen um gegenstandsbezogene Überlegungen. Das heißt, es gilt zu beschreiben, was eigentlich verstanden und diagnostiziert werden soll, was der konkrete Gegenstand der Erkenntnisprozesse ist.
Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik
Kapitel 3beschreibt grundlegende fachliche Orientierungen, die unser Verständnis von Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit leiten; konkrete methodische Instrumente für den fallanalytischen Prozess sowie deren theoretische Hintergründe folgen. Dabei wird in dem Kapitel zunächst das methodische Konzept als Ganzes eingeführt sowie nachfolgend die Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Hier wird ausführlich auf den in Kapitel 1vorgestellten Fall Bezug genommen, um die einzelnen methodischen Instrumente anschaulich zu erklären. Der Fall wird konkret „durchgearbeitet“, um Schritt für Schritt die leitenden Hypothesen zu entwickeln, die schließlich im Fall der Familie Kramer in einer (vorläufigen) Diagnose münden.
zentrales Fachwissen für Fallarbeit
Methodisches Handwerkszeug ist wesentlich für die professionelle Fallbearbeitung. Was aber gehört zum notwendigen Wissenskanon und über welche (Schlüssel-)Qualifikationen müssen Fachkräfte verfügen, um die Fallarbeit professionell und fachlich angemessen voranzutreiben? Diese zwei zentralen Fragen stehen in den Kapiteln 4 bzw. 5 im Vordergrund.
Fallverstehen und Diagnostik ist ein Prozess, in den umfangreiches Fachwissen eingebracht werden muss. Aus der breiten Palette des notwendigen Wissens haben wir für das vierte Kapitel dreizehn aus unserer Sicht zentrale Themen ausgewählt, die auf dem Stand des Fachdiskurses in konzentrierter Form eingeführt werden. Diese Beiträge verdanken wir FachkollegInnen, die wir mit ihrer jeweiligen Expertise angefragt haben. Für ihre Mühe, Sorgfalt und Geduld bedanken wir uns ausdrücklich und herzlich!
Schlüsselqualifikationen
Mit (Schlüssel-)Qualifikationen für die Fallarbeit beschäftigt sich im Anschluss Kapitel 5. Darin geht es sowohl um die Beschäftigung mit der individuell-persönlichen Dimension des Handelns und der Beziehungsgestaltung als auch um konkrete Anforderungen wie das Arbeiten mit Zielen oder die Dokumentation der Fallarbeit.
historische und konzeptionelle Einordnung
In Kapitel 6 rücken wir schließlich eine historische und konzeptionelle Einordnung unseres Konzeptes in den Fokus. Vor allem geht es um die Entwicklungslinien und Kontroversen hinsichtlich der verstehenden und diagnostischen Aufgaben in der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe.
Fazit und Ausblick
Fazit und Ausblick runden das Buch in Kapitel 7 ab: zum einen mit Überlegungen zur Frage der Qualifizierung für die Kernaufgabe des Verstehens und Diagnostizierens in akademischer Ausbildung sowie in der Qualifizierung sozialpädagogischer Fachkräfte. Zum anderen werden Entwicklungsbedarfe für die fallverstehende und diagnostische Arbeit in diesem Handlungsfeld skizziert. Mit dem reformierten SGB VIII zeigen sich dabei insbesondere Handlungsnotwendigkeiten für die Gestaltung einer inklusiven Jugendhilfe und Hilfeplanung an als auch die Stärkung der Rechte von Kindern, Jugendlichen und Eltern ("in für sie wahrnehmbarer Form").
unsere Intention
Wir hoffen, mit diesem Buch ein Konzept vorzulegen, das sowohl zukünftigen als auch bereits tätigen Fachkräften in der Sozialen Arbeit, besonders in der Kinder- und Jugendhilfe, Einführung und Orientierung bieten kann: für ein ausreichend komplexes und den Aufgaben angemessenes Kernkonzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik, das theoretisch begründet ist. Spezifische Methoden und Instrumente können bzw. sollten dies einzelfallbezogen ergänzen (z. B. eine psychiatrische Diagnostik zu der Frage, wie eingeschränkt möglicherweise ein Elternteil durch die eigene psychische Erkrankung ist).
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