Den Beerdigungstermin hatte er Paul ebenso wenig mitgeteilt, wie er auf dessen Kontaktversuche reagiert hatte. Mit den anderen Gruppenmitgliedern pflegte er ohnehin keinen Umgang. Der Bruch zu seinem Kollegen war ihm unvermeidlich erschienen. Er konnte sich eine Fortsetzung selbst eines losen Kontakts zu ihm und dessen Freunden nicht vorstellen. Die dünne Freundschaftsbasis hatte ja nicht einmal ausgereicht, die Radtour vernünftig zu Ende zu fahren. Eine vergleichbare Unternehmung würde es für ihn auf lange Zeit nicht geben, war er sich sicher.
2. Die Suchmeldung
Malte Thomas hatte es nicht eilig, wie noch am Vormittag, als er unbedingt pünktlich zu einem Termin in Hamburg erscheinen wollte. Doch jetzt war er gezwungen, sich Zeit zu nehmen.
Noch bis in die Nachmittagsstunden hinein hatte sich das Wetter an diesem Sommertag warm und trocken gezeigt. Nur am westlichen Horizont zeigten Zirruswolken eine Warmfront an. Etwas später verdichteten sich die Wolken am Himmel, und wer die beobachtet hatte, dem waren die Hinweise auf den heranziehenden Regen sicher nicht entgangen.
Inzwischen hatte sich der Niederschlag so verschärft, dass er wie eine Folie auf der Windschutzscheibe wirkte, der die Scheibenwischer nichts anhaben konnten.
Der böige Wind hatte Malte Thomas gezwungen, seine Geschwindigkeit zu reduzieren. Jetzt hinderten ihn auch noch die schlechte Sicht und die vielen LKWs vor ihm auf der Bundesstraße 4, schneller zu fahren. Die Reflexion der Scheinwerferlichter auf dem regennassen Asphalt irritierte ihn zusätzlich. Dunkelheit herrschte, obwohl es nicht einmal Abend war. Es regnete so heftig, wie vom Verkehrsfunk vorausgesagt, aber an diesem heißen Julitag war das für viele Menschen sogar eine Erfrischung. Malte prüfte kurz die geschätzte Ankunftszeit in der Navigationsanzeige, und die versprach heute einen beträchtlichen Zeitverlust.
Er war auf dem Weg zurück nach Hause von einem Termin in Hamburg. Er bereute in diesem Moment, dass er den Umweg über eine Landstraße hinein in die Lüneburger Heide genommen hatte, um dort Spuren eines bestimmten Laufkäfers, des Heidelaufkäfers, zu suchen. Das hatte nichts gebracht, aber viel Zeit gekostet, sonst wäre er sicher längst an seinem Ziel angekommen.
Er brauchte noch Fotos, die diese Käfer möglichst in ihrem natürlichen Lebensraum zeigten, so wie es seine Auftraggeber erbeten hatten. Da hatte die Sonne am Himmel noch geschienen, und die dunklen Kumuluswolken am Horizont hatten ihn nicht gekümmert.
Mit seinem Auftraggeber, eine noch junge IT-Firma in Hamburg, hatte er sich über seine Arbeit abstimmen müssen. Die entwickelte im Moment eine Applikation, für die er sein Wissen über Insekten beisteuern sollte. Mit diesen Tieren hatte er sich schon während seiner Tätigkeit als Professor für Biologie beschäftigt.
Die Firma hatte ihm eine Mitarbeit in ihrem neuen Projekt angeboten. Obwohl die Entwicklung einer App für ihn Neuland war, hatte er nur kurz gezögert und schließlich zugestimmt. Bisher war er immer nur Nutzer eines Smartphones oder Tablets gewesen. Technische Details dieser Geräte hatten ihn nie gekümmert. Jetzt war es eine Herausforderung für ihn, sich beim Sammeln des Materials stets der Beschränkungen dieser Geräte hinsichtlich Speicherplatz und Bildschirmgröße bewusst zu sein.
Das Treffen in Hamburg hatte ihn zusätzlich motiviert, weil er zum ersten Mal selbst einen Prototyp der App hatte testen können, in dem auch seine Beiträge präsentiert wurden. Das hatte ihm Spaß gemacht und seine anfängliche Skepsis gegen das ganze Projekt vergessen lassen. Die Entwickler hatten von ihm allerdings noch weitere Fotos und Beschreibungen von einigen heimischen Insekten gefordert, genannt hatten sie einen Laufkäfer, der in der Heide zu Hause war. An den hatte er nicht gedacht, weil er diesem kaum zwei Zentimeter messenden Käfer mit seinen golden glänzenden Flügeldecken keine große Bedeutung geschenkt hatte. Er vermutete jetzt, dass die zufällig in irgendeinem Internetartikel über dieses Tierchen gestolpert sein könnten, weil es auf der Roten Liste der speziell geschützten Insekten geführt wurde. Sicher schlossen die, dass eine Erwähnung in ihrer App wichtig wäre. Und vermutlich lagen sie mit ihrer Einschätzung richtig.
Auf der Rückfahrt hatte er sich spontan zu einem Umweg über die Lüneburger Heide entschieden. Den Zeitverlust hatte er ebenso verdrängt wie die geringe Wahrscheinlichkeit, einen solchen Käfer anzutreffen.
„Kann nur hoffen, dass ich diese jungen Leute nicht enttäusche.“
Er war fast eine Stunde lang in die Heidelandschaft hineingewandert, dorthin, wo er hoffte, das Insekt aufzuspüren. Mit der Kamera in der Hand war er auf dem Boden herumgekrochen. Sein Optimismus, fündig zu werden, war begrenzt, denn erst wenige Tage zuvor hatte er in einem Fachblatt lesen können, dass die Käferpopulation in der Heide erheblich zurückgegangen war. Der Klimawandel und der Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft wirkten sich auf die Häufigkeit von Käfern in der Lüneburger Heide negativ aus. Als selbst eine intensive Suche erfolglos blieb, wollte er schließlich aufgeben und überlegte, notfalls auf eine Wikipedia-Abbildung zurückzugreifen. Nur: Das hatte ihm widerstrebt, zumindest mangelnden Einsatz wollte er sich selbst nicht erlauben. Es ärgerte ihn, aber er würde mit Sicherheit die Suche nach dem Tier wiederholen.
Als er seine Bemühungen spät abbrach, hatten sich die Wolken am Himmel schon bedenklich zusammengezogen und der Wind erheblich aufgefrischt. Es fielen bereits die ersten Tropfen. Nur deshalb war er in dieses Unwetter geraten.
Im Auto hatte ihn die Meldung des Verkehrsfunks vor dem durchziehenden Regen gewarnt, der er aber wenig Beachtung schenkte, er erlebte ja, was der Sender verkündete. Im Vordergrundprogramm wurde irgendeine Geschichte gesendet, der er ebenfalls nur mit halbem Ohr zuhörte.
Er fixierte die Rücklichter des vor ihm schleichenden Fahrzeugs, dem er sicher zu dicht folgte. Zum rechtzeitigen Bremsen würde es hoffentlich reichen, war er dennoch überzeugt.
Im Radio ertönte eine Meldung, die ihn aufhorchen ließ. Er konnte die überhaupt nicht mit dem augenblicklichen Straßenverkehr und dem Wetter in Verbindung setzen.
„Gesucht wird die fünfzehnjährige Michaela Daniel aus Melbeck, die seit gestern Morgen vermisst wird. Sie wurde zuletzt gestern Mittag in der Nähe ihres Gymnasiums in Lüneburg gesehen. Bekleidet war sie mit …“
Die Beschreibung der Kleidung gab für ihn wenig her, es war der Name der Ortschaft, der ihn aufmerken ließ.
„Da bin ich doch heute Morgen durchgefahren“, äußerte er sich laut, der Ort lag ja südlich von Lüneburg, direkt an der Bundesstraße 4.
Wieso suchen die eine fünfzehnjährige Gymnasiastin? Die wird doch hoffentlich keinem Sexualtäter in die Hände gefallen sein?, überlegte er. Ihm fielen seine Enkelinnen ein, die etwa im gleichen Alter waren. Die Meldung irritierte ihn, weil er sofort an sie dachte.
Welcher Zufall war es, dass er heute Morgen durch den angegebenen Ort durchgefahren war? Er hatte die Autobahn in der Annahme gemieden, dass die kürzere Distanz auf der Bundesstraße ihn schneller zu seinem Termin bringen würde. Leider hatte er sich wegen des dichten Verkehrs geirrt, viele langsam fahrende LKWs und kleinere Staus in Ortschaften hatten ihn immer wieder aufgehalten. Was Pünktlichkeit anbelangte, so war er doch weniger flexibel als die jungen Leute in der Firma. Er hatte sogar überlegt, ob er denen seine mögliche Verspätung telefonisch ankündigen sollte.
Da war ihm auf der geraden Strecke unvermittelt ein Auto entgegengekommen, das kurzzeitig ins Schlingern geraten zu sein schien. Erschrocken war er auf die Bremse getreten und dicht auf den Fahrbahnrand ausgewichen. Er hatte mitbekommen, wie der Fahrer des anderen Wagens mit seinem rechten Arm erkennbar nach hinten in den Fond schlug.
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