Ich habe online nach interessanten und passenden Themen recherchiert und Material zusammengetragen als Basis für die Ausarbeitung mündlicher Vorträge, damit er so eine gute Note erlangen konnte. Dies alles tat ich, um ihn schulisch voranzubringen, damit er einen guten Abschluss bekommt und somit hoffentlich seinen Traumberuf erlernen kann. Das war mir so wichtig, eine Herzensangelegenheit! Mein Mann und ich hatten sehr früh bei unserem Sohn eine hohe Technikaffinität bemerkt. Alles, was er auseinander- und wieder zusammenbauen konnte, fand er toll. Und er war sehr gut darin. Außerdem gelang es ihm, sich dabei über längere Zeiträume zu konzentrieren. Für Menschen mit ADS ein wirklicher Gewinn! Und er teilte uns bereits in diesen jungen Jahren mit, dass er später einmal, wenn er groß sei, einen technischen Beruf ausüben wolle. Dies wollte ich ihm unbedingt ermöglichen und verwandte so einen Großteil meiner Kraft darauf, ihn zu unterstützen, wo ich nur konnte. Wohlgemerkt! Ich wollte unseren Sohn nicht zum Klassenprimus machen. Es war mein Ziel, ihn zu befähigen, bestmögliche Noten zu erreichen. Dies in der Hoffnung, dass sein gutes Abschlusszeugnis ihm den Weg zu seinem Traumberuf ebnet.
Ich wollte auch eine perfekte Hausfrau sein und war unentwegt damit beschäftigt, Haus und Hof in Ordnung zu halten. Täglich gab es abends eine frisch gekochte Mahlzeit. Und dann war da ja noch die Ehefrau, deren Bestimmung auszufüllen ebenfalls mein Anliegen war. Mit Liebe und Zärtlichkeit, Verständnis und Hingabe. All das hat in unserer kleinen Familie über Jahre hinweg funktioniert. Vor allem habe ich funktioniert.
Mein Mann war ebenfalls stark in seinen Job involviert. In seinem handwerklichen Beruf hatte er viele Baustellen bundesweit abzuarbeiten. Das bedeutete im Klartext, dass er sehr viel unterwegs war, manchmal die gesamte Woche außerhalb schlief und hier, vor Ort, nicht verfügbar war. Wenn es Probleme gab oder ich seinen Rat brauchte, konnten wir zwar am Abend telefonieren, die ausführende Kraft war dann aber immer ich. Das war schwierig. Für ihn genauso wie für mich. Er fehlte hier! Er fehlte als Partner und Papa. Andererseits fehlten mein Sohn und ich ihm ebenso! Wir konnten das Problem seiner Abwesenheit nicht lösen. Dazu hätte er seinen Job kündigen müssen. Aber diesen Gedanken schoben wir beide weit von uns. Seit der Wende hatte er in verschiedenen Baufirmen gearbeitet. Das war eine schlimme Zeit. Es war jedes Mal dasselbe Dilemma. Die Baufirmen hatten zwar große Aufträge, die sie abarbeiteten. Die Bezahlung durch die Auftraggeber ließ jedoch ewig auf sich warten. Oder erfolgte gar nicht. Dann erhielten die Angestellten, wie mein Mann, eben auch mal monatelang den Lohn in Abschlagszahlungen. Oder gar kein Geld. Die Firmen gingen letzten Endes Pleite. Arbeitslosigkeit folgte. Dann ein neues Arbeitsverhältnis in einer neuen Baufirma. Das Spiel ging von vorn los. Arbeiten, schuften. Jedoch keine Lohnzahlung. Firmeninsolvenz. Endlich hatte er einen Arbeitsplatz, den jetzigen, mit Perspektive. Er bekommt seinen Lohn und den sogar pünktlich! Außerdem fühlt er sich sehr wohl in der Firma. Zum Glück ist er nun nicht mehr so oft unterwegs. Wenn er hier vor Ort arbeitet, agieren wir in unserem Alltag als Team. Wenn er außerhalb sein Geld verdient, dann bleiben uns halt in schwierigen Momenten nur die Telefonate. Wir haben mit der Gesamtsituation unseren Frieden geschlossen.
Im Laufe der Zeit fragte ich mich, ob all diese Mühen, die wir auf uns nahmen, es nicht wert seien, anerkannt zu werden. Dieser Zeitpunkt trat ziemlich genau ein, als wir die Jugendweihe unseres Sohnes mit Familie und Freunden feierten. Es war ein wirklich wunderbares Fest. Vor allem freute es mich, unseren Sohn unbeschwert und glücklich zu erleben. Denn sein täglicher Kampf mit mir an der Seite, eingeschränkt durch seine Handicaps und mit ausgerichtetem Blick auf die Erreichung eines großen Ziels, war auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Aber wir haben als Familie immer zusammengehalten, wenn es Probleme gab mit dem Job, mit der Schule oder auch schon mal miteinander. Es gab immer einen Weg, eine Lösung. Wir haben uns nicht kleinkriegen lassen und zusammengerauft. Keiner hat hingeschmissen. Wenn einer von uns dreien am Boden lag, haben die anderen zwei ihn aufgerichtet, Rückhalt gegeben, und es ging weiter. Nie geradeaus. Immer über Umwege. Das war wahnsinnig anstrengend, kräftezehrend und manchmal auch beängstigend.
Damals stand bereits fest, dass in naher Zukunft noch einige schöne Ereignisse auf uns zusteuern, die gefeiert werden wollten … Der 50. Geburtstag meines Mannes, mein 50. Geburtstag, unsere Silberhochzeit und dann (hoffentlich) der Realschulabschluss unseres Sohnes. Also dachte ich mir: Das sind doch alles tolle Jubiläen! Weshalb nicht dies alles zum Anlass nehmen und etwas noch nie für uns Dagewesenes tun? Warum nicht uns einmal selbst belohnen? So entstand der Wunsch, etwas zu unternehmen, das für uns drei etwas ganz Außergewöhnliches sein sollte. Etwas, das wir wahrscheinlich nur einmal im Leben tun würden und das uns immer als etwas Kostbares und Wertvolles im Gedächtnis bleiben sollte. Warum nicht eine Reise? Und diese Reise wollte ich gemeinsam mit den beiden Menschen unternehmen, die ich über alles liebe – meinem Mann und meinem Sohn! Für uns als ostseeerprobte Wassersportler sollte es unbedingt eine Reise ans Meer sein. Aber in warme Gefilde, wo wir täglich surfen, tauchen, Kajak fahren und baden können, wann immer wir wollen. Zu jeder Tageszeit. Morgens, mittags, abends. Ich hatte auch sofort das Ziel vor Augen – das Paradies: H A W A I I. Solange ich denken kann, hatte ich Hawaii als ein abstraktes Wort im Kopf. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann und in welchem Zusammenhang ich das erste Mal von Hawaii hörte. Aber es hat sich positiv in meine Gedanken eingebettet – dieses Wort – Hawaii.
Ich muss leider zugeben, dass ich ein „Geschichtsmuffel“ bin. Schon in der Schule erweckte der Geschichtsunterricht ein Gefühl der Langeweile und der Teilnahmslosigkeit in mir. Die außergewöhnliche Historie Hawaiis jedoch entflammte mein Interesse. Und so, erzählte ich meinem Mann Lothar und unserem Sohn von Hawaii. Lothar war auf der Stelle begeistert, ihn hatte ich sofort mitreißen können. Unser Sohn hingegen hatte Bedenken. Die lange Anreise, die Fremdsprache, Urlaub in einem Hotel – das hatten wir seit seiner Geburt noch nie getan! Aber es gelang meinem Mann und mir, seine Bedenken zu zerstreuen, und so folgte im Rahmen eines abgehaltenen Familienrates der gemeinsame Entschluss – in ein paar Jahren fliegen wir nach Hawaii! Um es kurz zu machen: Unser Sohn hat seine Schulzeit mit einem Realschulabschluss beendet. Er bekam einen Ausbildungsplatz zum Kfz-Mechatroniker und arbeitet heute voller Leidenschaft und Hingabe in seinem Beruf.
2016 sind wir zu dritt nach Hawaii geflogen. Wir wollten drei Wochen bleiben. Nach sechs Tagen mussten wir zurück nach Deutschland. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte so etwas wie einen Zusammenbruch. Ich wusste damals nicht, was mit mir los war. Ich wusste nur, es geht mir so schlecht, dass ich befürchtete, ich könne auch sterben, bei all den Zeichen, die mein Körper mir damals sendete. Es war furchtbar! Ich hatte das Gefühl, meinem Mann und meinem Sohn diese Chance auf etwas einmalig Schönes genommen zu haben! Keiner von beiden hat mir jemals einen Vorwurf gemacht. Im Gegenteil! Beide haben mir damals auf Hawaii klargemacht, dass es keine andere Möglichkeit gibt als die sofortige Rückkehr nach Deutschland! Das Thema „Traumreise nach Hawaii“ hatte sich für uns drei erledigt. Vor allem unser Sohn war es, der nach unserer Rückkehr immer wieder sagte, wenn wir später über Hawaii sprachen, er werde niemals wieder dorthin reisen.
Ich habe dann noch ein halbes Jahr durchgehalten, bin arbeiten gegangen – weiterhin mit Engagement und Einsatz … Bis im November 2016 der endgültige Zusammenbruch kam. Ich war zu nichts mehr in der Lage. Weder im Job noch zu Haus. Ich wollte nur noch Ruhe, Stille, für mich sein. Der erste Termin in einer psychotherapeutischen Praxis brachte dann das ganze Ausmaß der Notlage, in welcher ich mich befand, ziemlich deutlich hervor. Es war eine Depression, welche mich in die Knie gezwungen hatte. Ein unsichtbarer Feind, der sich besitzergreifend als dunkles, schweres Tuch über meine Seele, mein Herz, meine Gedanken ausgebreitet hatte und alle Lebensfreude, allen Mut und alle Kraft überdeckte. Nun hieß es also wieder kämpfen. Aber diesmal gegen mich selbst. Oder besser! Für mich selbst! Widerstand und Gegenwehr konnte ich nur leisten, weil ich glücklicherweise nicht allein dastand. Unterstützung, Zuspruch und Liebe formten Schild und Schwert, welche in meine Hände gelegt wurden. Auch hier war es meine Familie, die mir beistand. Und ich hatte die Hilfe und Unterstützung meiner Psychotherapeutin. Einer ganz besonderen Frau, von der ich sehr viel gelernt habe. Vor allem über mich. In einer unserer Sitzungen erzählte ich ihr von dem schrecklichen Verlauf unserer Hawaii-Reise 2016. Aber auch von der Motivation, die dahinterstand. Sie sagte mir: „Das müssen Sie unbedingt noch mal tun! Fliegen Sie noch mal dorthin und holen Sie diese für Sie so wichtige Reise nach!“ Dieser Zuspruch traf mich unerwartet. Im ersten Moment dachte ich: „Wirklich? Was ist, wenn ich wieder zusammenbreche? Wenn wir wieder vorzeitig zurückkehren müssen oder noch Schlimmeres passiert – mit mir?“ Wenn, wenn, wenn … Aber dann siegte ziemlich schnell das tiefe Vertrauen in meine Ärztin, und mein logischer Verstand schaltete sich ein, vertrieb Ängste und Zweifel. Und ich kam zu der Erkenntnis: Meine Ärztin wird mir auf keinen Fall zu dieser Reise raten, wenn sie nicht überzeugt davon ist, dass ich, vor allem mental, in der Lage bin, dieses Unternehmen zu bewältigen. Und fühlte ich mich in der Lage? Jawohl!!! Es ging mir nach zweieinhalb Jahren Psychotherapie wieder gut! Ich hatte inzwischen jede Menge Lebensenergie zurückbekommen. Hatte für mich kleine Strategien entwickelt, besser auf mich zu achten, und gelernt auch mal Nein zu sagen, wenn ich mich überfordert fühlte. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter darüber berichten, weil dieses Thema zu umfangreich ist, um es hier ausführlich und in aller Ernsthaftigkeit abzuhandeln. Ich will es jedoch angesprochen haben, weil ich denke, dass es erforderlich ist, meine Erkrankung zu erwähnen. Es wird, denke ich, dabei hilfreich sein, meine Gedanken und Gefühle, welche ich auf den kommenden Seiten beschreiben werde, besser einzuordnen.
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