Und da ich inzwischen kurz vor einer Panikattacke stand, fasste ich einen Entschluss. Mein Mann und ich hatten im Jahr 2019 unseren 30. Hochzeitstag. Dieses Jubiläum war ebenfalls ein Grund für die Reise nach Oahu. Wir hatten gemeinsam überlegt, wie wir dieses wunderbare Ereignis in unsere Reisepläne einbinden könnten. Ich sah mir im Internet die Seiten der Anbieter von Heiratsarrangements auf Hawaii an. Traumhaft schön! Es gab nichts, was es nicht gab! Alles war möglich! Man konnte am Strand heiraten. Auf einer eigens gecharterten Yacht. Sogar unter Wasser, mitten im Ozean, war eine Trauung möglich. Aber das alles war nicht wirklich das, was wir wollten. Mal davon abgesehen, dass die geschnürten Wedding-Packages ein kleines Vermögen kosten, haben sie auch diesen kommerziellen Beigeschmack. Wir wollten etwas Eigenes, Intimeres! Unser gemeinsamer Wunsch war es, unser Eheversprechen zu erneuern. Im traumhaft schönen Ho‘omaluhia Botanical Garden. Dort wollte jeder von uns beiden dem anderen sagen, was er nach 30 gemeinsamen Ehejahren für den anderen empfindet... Das war der Plan.
Aber nun saßen wir in unserem kleinen Hotelzimmer, und ich war völlig durcheinander nach der strapaziösen Anreise, dem ständigen Hin und Her zwischen zwei Sprachen, dem Reisepassproblem, dem Kreditkartenproblem. Ich dachte nur noch an den kommenden Tag und daran, dass wir vielleicht morgen schon wieder zurück nach Deutschland müssen oder ich einen Herzanfall oder Schlaganfall oder Ähnliches erleide bei all der Aufregung. Mein Mann hielt noch immer meine Hand. Ich blickte ihn an, teilte ihm meine Befürchtungen mit. Und dann platzte es aus mir heraus. Ich wollte ihm jetzt all das offenbaren, was ich mir in schönen Worten für unsere Zeremonie in der malerischen Kulisse des Ho‘omaluhia Botanical Garden zurechtgelegt hatte. Bevor ich vielleicht nie mehr die Gelegenheit bekomme, tue ich das jetzt! Und ich tat es! Ich weiß nicht genau, wie lange ich erzählt habe, aber es war ziemlich lange. Es gab auch viel, über das es sich zu reden lohnte. Viele Momente unseres gemeinsamen Lebens, die es verdienten, angesprochen zu werden. Wir hatten ja schließlich auch eine bewegte gemeinsame Vergangenheit.
Wir lernten uns kennen und waren sofort eins. Drei Jahre später heirateten wir. Jeder von uns beiden hatte im anderen die Liebe seines Lebens gefunden. Und nachdem wir lange Zeit vergeblich versucht hatten, Kinder zu bekommen, brachte die ärztliche Diagnose eine traurige, bittere Wahrheit hervor. Wir werden kinderlos bleiben!! Was tun? Wie damit umgehen? Wir beide hatten uns aus tiefstem Herzen Kinder gewünscht! Wir konsultierten mehrere Ärzte. Alle entließen uns mit einem Bedauern in der Stimme und konnten uns doch nur die gleiche Diagnose wie ihre Vorgänger stellen. Es war eine harte Zeit. Aber unsere Liebe zueinander war stark genug, uns positiv in eine gemeinsame, wenn auch kinderlose Zukunft blicken zu lassen. Wir beschlossen, unser Leben neu auszurichten. Und dann, im Dezember 1988, wurde bei mir eine Schwangerschaft festgestellt. Einfach so. Nach all den Arztbesuchen, den vergossenen Tränen, den korrigierten Prioritäten in unserem Leben, da erfüllte sich plötzlich unser allergrößter Wunsch! Wir sollten Eltern werden! Ich hatte eine wunderbare Schwangerschaft. Wir waren so glücklich über das wachsende, neue Leben in mir und so stolz auf meinen immer größer werdenden Bauch. Der Tag, an dem unser Kind zur Welt kommen sollte, rückte immer näher. Und dann, eine Woche vor dem errechneten Entbindungstermin, hatte ich abrupt keine Kindsbewegungen mehr. Ich fuhr sofort, an einem Freitag, zu meiner Frauenärztin. Diese untersuchte mich und teilte mir mit, es sei alles in Ordnung. Es sei „die Ruhe vor dem Sturm“, sagte sie. Das Kind würde in der richtigen Geburtsposition liegen und die Wehen sicher bald einsetzen. Falls dies über das Wochenende nicht geschehe, solle ich am Montag zur Untersuchung ins Krankenhaus fahren. Und da weder am Samstag noch am Sonntag die Wehen einsetzten, fuhr ich am Montagmorgen in die Klinik. Dort konnte niemand helfen. Ich brachte ein totes Kind zur Welt. Eine Obduktion ergab, dass unser Kind an einer schweren Anämie gelitten hatte und daran verstorben war. Dieser Abschnitt unseres Lebens war eine Zeit, die tiefe Wunden auf unser beider Seelen hinterlassen hat. Mein Mann und ich gingen gemeinsam durch die Hölle. Noch heute fällt es uns schwer, darüber zu sprechen. Zu schmerzlich und grausam sind die Erinnerungen. Aber irgendwie haben wir es geschafft, nicht an diesem Schicksalsschlag zu zerbrechen.
Nachdem uns die Natur entgegen aller ärztlichen Diagnosen die große Hoffnung, die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft mit einem leiblichen Kind gegeben hatte, brannte dieser Wunsch in unseren beiden Herzen weiter. In den folgenden acht Jahren hatte ich zwei erfolglose In-vitro-Fertilisationen, welche mit einer Fehlgeburt endeten. Wieder Trauer, Enttäuschung, Schmerz! Die dritte In-vitro-Fertilisation war bereits geplant. Und dann, im Februar 1998, wurde erneut eine Spontanschwangerschaft bei mir festgestellt. Diese Schwangerschaft verlief ganz anders als die erste. Es ging mir sehr schlecht. Ich war mehrmals im Krankenhaus, weil ich starke Kreislaufprobleme hatte. Es war eindeutig psychisch bedingt. Zu groß war die Angst, dass wieder etwas Furchtbares passieren könnte. In dieser Zeit war mein Mann immer an meiner Seite. Er hat versucht, alles Unangenehme von mir fernzuhalten. Er hat mich beschützt. Er war bei der Geburt unseres Sohnes dabei, die eine Woche vor dem errechneten Entbindungstermin eingeleitet wurde. Die Geburt unseres Sohnes war der kostbarste Moment in unserem Leben. Der Augenblick, in dem ich unseren Sohn in den Armen hielt, mit meinem Mann an meiner Seite, bestand aus Liebe und Glück und Dankbarkeit. Wir sind uns dieses größten aller Geschenke täglich bewusst!!! Das Leben hat uns belohnt, indem es uns einen wundervollen (kleinen) Menschen gab, der uns von da an auf unserem gemeinsamen Lebensweg begleitete …
Es gab in den zurückliegenden 30 Jahren unserer Ehe viele Berg-und-Tal-Fahrten. Es ist wunderbar, wenn man glückliche Momente miteinander teilen und genießen kann. Das ist für mich nichts Selbstverständliches. Zweifellos waren es unglaublich großartige Gefühle, die uns erfüllten, wenn wir gemeinsam etwas ganz Tolles erlebt oder erreicht hatten. Wir spürten dann in inniger Verbundenheit Augenblicke voller Freude, Ausgelassenheit, Heiterkeit, Begeisterung und Nähe. Die Erinnerung an diese positiven Begebenheiten trage ich tief in meinem Herzen. Darüber sprach ich auch mit meinem Mann in dieser Nacht in unserem Hotelzimmer … Und darüber, wie unsagbar glücklich ich bin, dass wir gerade in Zeiten des Kummers, der Angst und Verzweiflung immer füreinander da waren. Dem anderen treu, selbstlos und mit aller Kraft zur Seite standen. In der Gegenwart meines Mannes fühlte ich mich geborgen. Unser tiefes, gegenseitiges Vertrauen war das Fundament eines selbstverständlichen Gefühls der Zusammengehörigkeit. Es dauerte einige Zeit, bis ich mir alles, was ich ihm so gern sagen wollte, von der Seele geredet hatte. Mein Mann hingegen wollte sich seine Worte für den Ho‘omaluhia Botanical Garden aufheben. Er war unerschütterlich positiv. Für ihn stand felsenfest, dass wir nicht abreisen werden und sich alles zum Guten wenden wird. Er war der positive Pol zu meinem negativen Gegenpol.
Und so brach er an, der kommende Morgen. Nach einer schlaflosen Nacht und mit tiefen Augenringen rief ich Ines und Detlef auf ihrem Hotelzimmer an, und wir alle verabredeten uns in der Lobby. Wir gingen zur Rezeption. Dort herrschte bereits geschäftiges Treiben. Ich sprach eine Mitarbeiterin an. Zufällig war sie der Supervisor, die richtige Gesprächspartnerin für unser Anliegen. Ich erklärte also nochmals das Problem mit unserer Kreditkarte, welche ja ausreichend gedeckt wäre, wenn sie mit dem korrekten Rechnungsendbetrag belastet werden würde. Die nette Dame am Empfang nickte zwischendurch ein paar Mal und wandte sich der Tastatur ihres PCs zu. Mein Hals war zugeschnürt. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht verstand, was sie mir dann antwortete. Sie musste es noch einmal wiederholen. Ich sah sie an, und mit freundlicher Stimme teilte sie uns mit, dass sie unsere Kreditkarte mit der realen Rechnungssumme belasten werde und falls weitere Kosten anfallen würden, wir diese cash, also bar bezahlen könnten. Sie würde uns vertrauen! Nun war alles in Ordnung! Eine riesengroße Last und Anspannung fielen von mir ab. Mir standen augenblicklich Tränen der Erleichterung in den Augen. Ich ergriff ihre Hand, dankte ihr aus vollstem Herzen. Ich glaube, sie war zuerst etwas überrascht über meinen extremen Gefühlsausbruch, nahm dann meine Worte des Dankes jedoch gern entgegen. Ich übersetzte für meine Familie noch schnell das zuvor Gesprochene. Eigentlich brauchte ich das gar nicht, denn die Situation erklärte sich von selbst. Nun waren wir alle vier erleichtert. Es war geschafft! Die (hoffentlich!) letzte Hürde war genommen! Es konnte beginnen, unser Abenteuer auf Oahu …
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