Silke Riemann
VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS
1. Teil: Berlin-Friedrichshain 2010
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Inhaltsverzeichnis
Titel Silke Riemann VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS 1. Teil: Berlin-Friedrichshain 2010 Dieses ebook wurde erstellt bei
1. VOM ANFANG DES SOMMERS 1. VOM ANFANG DES SOMMERS
2. Rechthaben
3. Haltestelle
4. Wirtschaftswunder
5. Retourkutsche
6. Heimsuchung
7. VOM ENDE DES SOMMERS
8. Rechtbekommen
9. Endstation
10. Wunderkind
11. Geheimsuchung
12. Statusmeldung
13. Danksagung
Impressum neobooks
1. VOM ANFANG DES SOMMERS
Der drahtige, durchtrainierte Mittvierziger, der in hautenger, atmungsaktiver Sportkleidung durch den Volkspark Friedrichshain joggt, dreht den Regler seines iPods auf volle Lautstärke und beschleunigt seine Schritte. Stefan Unger mag den Song, in dem „Die Ärzte“ behaupten, Männer seien Schweine und wollten immer nur das Eine. Außerdem ist das Lied lustig, findet er. Aber das hat seine Ex-Frau Bea nie kapiert. Sie fand „Die Ärzte“ nur gut, wenn sie – wie sie es nannte – „politisch“ waren. Doch in diesen Songs vermisste Stefan die typische Selbstironie der Punkrocker. Bea hatte mit dem Mutter-Sein plötzlich ihren Humor verloren. Seit Tanjas Geburt nahm sie alles bierernst und trug das Leiden der ganzen Welt auf ihren Schultern.
Stefan erinnert sich daran, dass er damals, vor zehn Jahren, auch diesen Weg entlang gelaufen war, kurz nach der Rekonstruktion des Parks. Sie waren gerade aus dem Urlaub zurückgekommen – er, Bea und die sechsjährige Tanja. Stefan hatte sich auf der Rückfahrt wegen eines Autobahnstaus total verfahren. Bea wusste zwar den richtigen Weg, aber er hatte nicht auf sie gehört. Deshalb musste er sich ihre Vorwürfe anhören: „Was du dir immer beweisen musst!“, „Du mit deiner albernen Männlichkeit!“ Kurz danach war ein Streit darüber entbrannt, ob Tanja eine „Ärzte“-CD mithören darf oder dadurch etwa schweren seelischen Schaden nimmt. Er hatte leichthin gemeint: „Im Vergleich zu Benjamin Blümchens grenzdebiles ´Törrrrööö´ sind diese Songs ja wohl in jedem Fall ein Gewinn – selbst wenn es hin und wieder um harten Sex…“
„Psst“, hatte ihn Bea unterbrochen. Ihr Humor war ihr wirklich völlig abhandengekommen.
Und dann auch noch dieses Päckchen zuhause! Hätte es ihre Nachbarin doch bloß nicht angenommen! Stefan erinnert sich heute noch daran, wie Bea und er sich angeschrien hatten – vor ihrer Tochter:
„Das ist Bestechung. Warum danken die dir sonst? Weil du sie rausgehauen hast“, zeterte Bea.
„Das ist mein Job. Ich bin nun mal Anwalt“, hatte er versucht zu argumentieren. „Ich habe die Firma vertreten...“
„Die Firma, die Asthmamedikamente auf den Markt bringt“, fiel sie ihm ins Wort, „die abhängig machen, aber nicht wirklich helfen.“
„So ein Quatsch! Das ist niemals bewiesen…“
„Die Wirkung ist sehr wohl bewiesen: Null Heilerfolg, aber eine kurze subjektive Erleichterung.“
„Nicht bewiesen ist, dass die Firmenleitung davon gewusst hat. Die Studien...“
„…haben das eindeutig und zweifelsfrei belegt. Aber die wurden ja unter Verschluss gehalten.“
Früher hatte er Bea sogar niedlich gefunden, wenn sie sich so aufregte. Aber mit jedem Jahr ging sie ihm mehr und mehr auf die Nerven. Aus jeder Mücke machte sie einen Elefanten, und ihre Argumentationskette führte jedes Mal zu einem Vorwurf in der Größenordnung von „Du willst wohl den Atomkrieg“ oder wie in diesem Fall: „Stell dir vor, unsere Tochter würde mit solchen Medikamenten behandelt werden. Du willst sie wohl umbringen.“
Vor allem in der Nacht war es beängstigend, wenn Tanjas Bronchien bei jedem Atemzug fiepten und das Mädchen vor Schreck aufwachte, weil es keine Luft bekam. Seit sie jedoch bei einem Spezialisten in Behandlung war, hatte sich das fast vollständig gegeben. Cortison hin oder her – all die alternativen Methoden, die Bea vorher an ihr ausprobiert hatte, hatten nicht geholfen; außer das Meeresklima. Beatrix´ Eltern wohnten in Heringsdorf. Deshalb fuhr die Familie jedes freie Wochenende nach Usedom. Stefan wäre allzu gern hin und wieder mal woanders hin gereist oder in Berlin geblieben. Aber dann musste er sich von Bea gleich fragen lassen, ob er Tanja umbringen wolle. Oder wenn er einen Hund auch nur aus der Ferne anschaute und leise sehnsuchtsvoll seufzte. Sofort attackierte ihn Bea: „Ja, ich weiß, du wolltest schon als kleiner Jung einen Hund. Aber nun hast du eine asthmakranke Tochter.“ Sie hatte den Dreh raus, ihm – egal, worum es ging – ein schlechtes Gewissen einzureden.
Mit gestrecktem Arm und spitzen Fingern, als sei darin Giftmüll, hielt sie ihm das Präsentpäckchen entgegen: „Solche Verbrecher haust du raus! Du sorgst dafür, dass sie straffrei bleiben und weitermachen können! Deshalb das Geschenk! Bestimmt eine teure Uhr oder Schmuck für die Gattin… Dich interessiert doch nichts anderes als dein eigener Vorteil.“ Es hat nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn „Nazi“ genannt.
Nichts ist so lustraubend wie eine ständig keifende Mischung aus Rosa Luxemburg und Alice Schwarzer im Schlafzimmer. Hingegen: Janet, die acht Jahre jüngere Engländerin aus seiner Kanzlei… Als sie ihn das erste Mal „Steve“ nannte, wurde ihm ganz schummerig. Er verbot ihr strikt, am Telefon derartig aufreizend zu raunen. Aber selbst wenn sie vollkommen normal und professionell sagte: „Rechtsanwaltskanzlei Unger und Partner, Büro Steven Unger, guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“, könnte er sofort über sie herfallen.
Dass Bea etwas ahnte, hatte er befürchtet. „Anstatt für unsere Ehe zu kämpfen, für unsere Familie, holst du dir das, was dir fehlt, heißen Sex und Anerkennung, woanders: bei deiner Tippse. Du mieser, kleiner Feigling!“
Es war sinnlos, es zu leugnen.
Mag sein, dass die Ärzte Recht haben und Männer tatsächlich Schweine sind…
Der Park ist an diesem Nachmittag voller Menschen. Obwohl es erst Anfang Juni ist, brennt die Sonne erbarmungslos. Stefan trägt ein weißes Basecap auf seinen zwei Millimeter kurzen Haaren. Als er sich vor zehn Jahren seine Haare hatte abrasieren lassen, kurz nach der Trennung von Bea, wurde er damit zum Trendsetter im Kiez. Damals war er Ende dreißig und wollte noch einmal neu durchstarten. Und er wollte nicht jedem ausgefallenen Haar nachtrauern oder sein Geld in die absurde Hoffnung investieren, die lichten Stellen würden sich durch teure Hormontherapien oder Haarwuchsmittel wieder auffüllen lassen. Stattdessen ließ er sich einen Dreitagebart wachsen. Heute laufen fast alle Männer hier so rum.
Upss. Beinahe wäre er über seinen rechten Schnürsenkel gestolpert. Als er sich hinunterbeugt, um ihn zu zubinden, fällt ihm einer der Ohrstöpsel heraus. Was ist das denn? Die Punks auf der Wiese hören tatsächlich die gleiche Musik wie er: die „Ärzte“.
Jeden Tag – egal, bei welchem Wetter – läuft Stefan zehn Kilometer, neben ihm an der lockeren Leine, im konstanten Abstand von einem halben Meter – sein Irish Setter Brutus. Gleich nachdem Beatrix mit Tanja ausgezogen war, hatte er ihn sich gekauft – endlich.
Sein Pulsmesser zeigt ihm neben der Uhrzeit, dem Tag und der Lufttemperatur auch seine exakt zurückgelegte Strecke, seine Schrittzahl und seine Herzfrequenz sowie die verbrauchten Kalorien an. Er hat es immer noch drauf: Locker überholt er die fünfundzwanzigjährigen Stuttgarter „Weicheier“, wie Stefan sie nennt, „…die das Bötzow-Viertel neuerdings bevölkern, weil ihnen Papi eine kleine Wohnung im Berliner Szenebezirk gekauft hatte für ihre Studienzeit, die ewig dauern darf, weil Papi ja für alles aufkommt.“
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