Der Professor löste sich von Lenkas Gesicht, schnaufte ein paar Mal durch und ließ sich in die blauen Polster zurückfallen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen, schlug er in größtmöglicher Liebenswürdigkeit vor und drehte seinen Oberkörper Richtung Auditorium. Ein Beispiel, um Ihnen die ganze Sache zu verdeutlichen. Dann wird sicherlich einiges klarer.
Bitte, sagte die Moderatorin, nur zu.
Vor nunmehr gut fünfhundert Jahren, hob der Professor an, zur Zeit der sogenannten europäischen Erkundungsreisen, konnten wir den Stein, der meiner These zugrunde liegt, nur allzu gut beobachten. Ja, die Geschehnisse damals bieten geradezu ein Paradebeispiel für das, was mich schon seit Jahrzehnten … Er holte unnötig weit aus, um nach allerlei Schlenkern und Abschweifungen zu der Geschichte jenes Inka-Herrschers zu gelangen, der die Eindringlinge, damals in Gestalt der spanischen Konquistadoren, völlig unbedarft! , zum Goldschatz seines Volks geführt hatte. Weil er geltungssüchtig war oder stolz oder schlicht: naiv, das lasse sich so genau nicht sagen. Der Professor deutete an, sich dunkel zu erinnern, dass der Inka-König sogar im Gefängnis gesessen und versucht haben könnte, sich durch seine enormen Goldvorräte freizukaufen, aber bis ins letzte Detail habe er die Geschichte gerade auch nicht mehr parat. Das sei aber auch unerheblich. Was auch immer den Inka-König getrieben hat, sagte der ukrainische Professor: Es ist ihm nicht bekommen. Über Wochen haben die Untertanen den Goldschmuck herangeschleppt und die Konquistadoren haben ihn eingeschmolzen bis auf den letzten Rest, eine Brosche nach der nächsten. Er beugte sich wieder vor. Und wissen Sie, was dann passiert ist? Seine Augen in schnellem Wechsel von Lenka zur Moderatorin. Ich sag es Ihnen: Sie haben ihn erwürgt! Und wissen Sie was: Damit hatte er noch Glück! Eigentlich sollte er auf dem Scheiterhaufen landen, der arme Teufel, das war der ursprüngliche Plan. Brennen sollte er, wenn es nach dem Willen der Spanier gegangen wäre, aber in letzter Sekunde ist er noch zum Glauben seiner Mörder konvertiert und hat sich so den Tod durch die Garotte erkauft. Er hat ihnen alles gegeben, und sie haben ihn erwürgt. Er-würgt! Der Professor ließ sich zurück in den Sessel sinken.
Uff, sagte die Moderatorin. Schlimme Geschichte.
Aber verstehen Sie, was ich damit sagen will? Kön-nen Sie mir fol-gen?! Wir geben unsere Schätze preis, unsere Geschichten, unsere Kultur, selbst wenn es der Fernsehschrott ist, den wir seit achtzig Jahren in den Äther blasen. Ich sage Ihnen: Es wird uns nicht bekommen, irgendwem da draußen von uns zu erzählen! Wir werden in jedem Fall die Schwächeren sein und wir werden in jedem Fall den Kürzeren ziehen. Wenn wir Glück haben, werden wir erwürgt, und das ist noch der beste Fall! Ich spreche im übertragenen Sinne, Sie verstehen schon. Die Moderatorin nickte vorsichtig, schaute bemüht in ihre Moderationskarten und dann Lenka an. Blickte beinah flehentlich.
Warten Sie, sagte sie, das kann doch jetzt nicht … Nein, bitte, warten Sie –
Aber da war Lenka schon aufgestanden und hatte das Podium verlassen.
Was war das denn gerade? fragte ihr Arbeitsgruppenleiter am Rand des Podiums. Hier, nimm mal einen Schluck Wasser. Scheiße, weinst du etwa? Er klopfte sich Hintern- und Brusttasche ab, fand ein Taschentuch, reichte es ihr. Vielleicht nimmst du dir mal etwas Zeit für dich, hm? Spannst bisschen aus und dann sehen wir weiter. War vielleicht alles etwas viel zuletzt.
Tags darauf findet Therese sie auf der Bank am Wasser in einem Industriegebiet in der St. Petersburger Vorstadt. So geht es los. So lernen sie sich kennen. Cape Canaveral am Finnischen Meerbusen. Es gibt da diesen Ort, sagt Lenka später im Bus, der sie zurück in die Stadt bringt. Ein Historiker in Sibirien habe ihr davon erzählt. Von diesem Ort in Argentinien, in dem der Kontakt zu außerirdischem Leben nicht als bloßes Hirngespinst abgetan werde. Lenka wirkt nicht wie eine Esoterikerin, aber was lässt sich nach der kurzen Zeit schon sagen. Bei manchen zeigen sich solche Tendenzen erst nach Jahren. Ein wenig Argwohn ist in jedem Fall angezeigt, eine gesunde Skepsis, aber deshalb kann man ja trotzdem mal zuhören. Lenka macht nicht den Eindruck, als sei sie wirr. Höchstens etwas entrückt von der Welt, aber das Gefühl kennt man.
Und dort willst du jetzt hin oder was?
Klar. (Zögern. Dann sehr schnell:) Kommstdumit?
Ha, nein! Was soll ich da? Und was willst du da?
Lenka sieht aus, als würde sie die Frage nicht verstehen. Weißt du, sagt sie langsam, ich denk mir manchmal: Auf die Menschen ist nicht zu setzen.
Hier entsteht eine Lücke. Sie sehen einander an. Der Bus schnauft. Ein Moment verstreicht, dann sagt Lenka: Vermutlich suche ich einfach einen Ausweg.
Therese betrachtet die dürre Gestalt an ihrer Seite und die Finger, die ein schmales Handgelenk umgreifen. Wie sie davon spricht: als würden all ihre Hoffnungen darauf ruhen. Wann trifft man schon einmal eine Person, die eine Sehnsucht hat, auf der all ihre Hoffnungen ruhen. Überhaupt: alle Hoffnungen! Therese lehnt sich langsam zurück, ohne Lenka aus den Augen zu lassen. Wahrscheinlich ist schon Abendessenszeit. Sie hätte längst zu Hause anrufen müssen, die Mutter wird ihr Vorwürfe machen. Sie muss sich bei der Großmutter melden. Überlegen, wie es weitergehen kann. Sie drückt die Schultern in die Rückenlehne. Einen Ausweg, ja, einen Ausweg müsste man haben.
Es gibt Gründe, irritiert zu sein.
Man könnte sich der Irritation hingeben. Überlegen, was aus der Irritation werden könnte. Eine Verstörung. Eine Gelegenheit. Oder eben: ein Ausweg. Vergessen, dass man eigentlich in einer Situation ist, in der Entscheidungen getroffen werden wollen. Sich der Idee hingeben, einfach nicht zurückzukehren. Das Kind, verschollen in Russland. Tragisch ist das. Der einzige Weg ins Freie, der offensteht. Sich im Schaukeln des Überlandbusses auf dem zerschlissenen Sitz zurücklehnen und diese Person betrachten, über die man da gestolpert ist. Denken: Alles könnte anders sein.
Ein paar Tage später, kurz vor Thereses Abflug, ruft dann die Mutter an und sagt, die Großmutter sei gestorben. Tatsächlich sagt sie: Die Oma hat es geschafft.
Ist sie tot?
Hörbare Verunsicherung am anderen Ende. Der Verunsicherung mit Details begegnen. Die Mutter erzählt von der blau verfärbten Zunge der Großmutter. Eine Folge des Kontrastmittels. Das helle Dreieck um den Mund habe die Pflegerin schon am Abend bemerkt und gesagt, nun könne es nicht mehr lang dauern. Und dann in den frühen Morgenstunden. Dass das üblich sei oder statistisch gesehen die Regel. Die ganz Alten sterben oft in den frühen Morgenstunden.
(Was habe ich gestern in den frühen Morgenstunden gemacht.) Therese?
Woher weißt du das, warst du dabei?
Sie haben es mir erzählt. (Als nichts kommt:) Ach Therese. Wie stellst du dir das vor. Wir konnten doch nicht die ganze Zeit … Bist du noch dran –?
Die Mutter versucht es mit weiteren Einzelheiten, von der ordentlich hergerichteten Großmutter, eine Hand auf der anderen, aber nicht gefaltet, immerhin, in sehr glatter Bettwäsche. Therese denkt an die geschwollenen Fingerknöchel und den benoppten Hartgummiring, den die Großmutter vor dem Fernseher knetete. Die Mutter weiter: dass sie keine Schmerzen hatte. Friedlich aussah zum Schluss.
Hat sie noch etwas gesagt?
Nein, sie hat gar nicht mehr gesprochen. Aber ihren Schokopudding hat sie mir geschenkt am Abend vorher.
Da kann Therese endlich heulen. Sie will ihren Flug umbuchen, aber Kind, das bringt doch nichts, sagt die Mutter, du kannst hier doch nichts machen, wir sehen uns am Donnerstag, ich hole dich ab. Zwei Tage später stehen sie voreinander an der Schiebetür in der Ankunftshalle und jede zuckt einmal kurz nach vorn und beide bemerken es gleichzeitig und geben sich dann gleichzeitig diesen Ruck, den man sich gibt manchmal, und umarmen sich.
Читать дальше