Die aufrichtigen Erinnerungen des Jona Beck
Roman von Raya Mann
Lektorat Julia Gilcher
Es gibt nichts zu verstehen.
Wenn man jemanden wirklich liebt, muss man seine geheimnisvolle Seite akzeptieren. Genau darum liebt man ihn ja, nicht wahr?
Patrick Modiano
Im Café der verlorenen Jugend
Die Vergangenheit erfüllt mich vollkommen. Die Wirklichkeit besteht aus dem, was ich nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr riechen und nicht mehr berühren kann. Die einstige Sehnsucht, das einstige Verlangen, das vergangene Glück und der vergangene Schmerz, sie sind mein Leben. Brauche ich mehr?
In mir steigen Bilder auf, alte Bilder. Vor zwanzig oder dreißig Jahren waren die Lebewesen und die Gegenstände in diesen Bildern Wirklichkeit. Vor Jahrzehnten waren auch die Stimmen und die Geräusche, die ich noch heute hören kann, und die Gerüche, die ich immer wieder einatme, Wirklichkeit. Auf meiner Haut klingen Berührungen aus einer unvergessenen und doch fernen Welt nach. All diese Empfindungen, die unauslöschlichen Spuren von damals, sie bedeuten mir alles. Tatsächlich bin ich das, was ich war. Ein Anderer oder mehr als das, was ich war, kann ich nicht sein.
Ich bin 42 Jahre alt. Die Wirklichkeit von 42 Lebensjahren besteht aus so vielen Bewegungen und Begegnungen, dass kein Mensch sie erfassen kann. Wir bemerken nur den geringsten Teil von dem, was an uns vorbeizieht. Auf das Gedächtnis können wir uns nicht verlassen. Es hält die Dinge nicht fest, es lässt sie verloren gehen. Zudem erzeugt es zahlreiche falsche Erinnerungen an Dinge, die es nie gegeben hat. Also bin ich nicht das, woran ich mich erinnere, sondern das, was ich vergessen habe. Die Erinnerungen sind nichts als die Brosamen vom mächtigen Brot der Vergangenheit. Die Brosamen sind mir geblieben, das Brot habe ich verzehrt.
Darum ist diese Fotografie so wichtig für mich. Es ist ein Glück, dass ich sie besitze. Jeden Tag betrachte ich sie. Die Szene, die darauf zu sehen ist, hat sich tief in meine Seele eingeprägt. Sie war der Anfang von allem. Hätte ich die Fotografie nicht, würde ich vielleicht zweifeln an dem, was damals geschah. Sie wurde im Dezember 1990 an einem Sonntagnachmittag aufgenommen, wenige Wochen nach meinem sechzehnten Geburtstag. Sie ist der einzige Beweis für etwas, was damals entfesselt wurde, etwas Endgültiges und Folgenschweres.
Ich sehe einen Waldweg im Winter. Es liegt zwar kein Schnee, aber man kann die bittere Kälte fühlen. Die nackten Bäume muten wie erfroren an und auf dem Boden liegt totes Laub, mit Raureif überzogen. Die Luft ist in ein fahles Grau getaucht. So sehen die kürzesten Tage des Jahres aus: Das wenige Licht kehrt zur Finsternis zurück, bevor es seinen Schein richtig verbreitet hat. Der Waldweg verliert sich in einer leichten Biegung zwischen den Bäumen. Zwei Menschen entfernen sich, dem Weg folgend, vom Betrachter. Ich blicke ihnen hinterher.
Es sind junge Menschen, das erkennt man sofort. Das Mädchen ist halb Kind, halb Teenager. In seinen Kleidern, einem etwas zu kurzen Rock, wollenen Strumpfhosen und gefütterten Stiefeln, wirken seine Beine zu dünn und zu lang. Der Junge, einen Kopf größer als das Mädchen, sieht mit seinen breiten Schultern schon fast wie ein Mann aus. Mütze, Schal und Handschuhe des Mädchens haben dieselbe dunkelrote Farbe. Es sind die einzigen bunten Kleckse in dem Bild. Die beiden halten sich an der Hand, während sie in den Wald hineingehen. Dass sie fotografiert werden, scheint sie nicht zu kümmern. Vielmehr wirken sie so, als seien sie ganz allein auf der Welt.
Welches Glück, dass ich die Fotografie besitze!
Jona Beck, 2. Dezember 2016
RAHEL
„Jona! Jona! Jona!“
Zu Tode erschrocken schlug ich die Augen auf und sah ins Gesicht meines Vaters, der mich aus dem Schlaf schüttelte. Auf den ersten Blick erkannte ich ihn nicht. Ein solches Gesicht hatte ich noch nie gesehen. Es war blutleer und nass von Tränen, der Rotz lief aus seiner Nase. Ich betrachtete es und fühlte mich mit einem Mal ganz klein und verloren. Es war jedoch Papa, der sich klein und verloren fühlte, so, wie er aussah. Ich fühlte eine schreckliche Angst.
Ich schrie: „Was hast du? Was ist los mit dir? Wo ist Mama?“
Er presste seine Lider fest zusammen, wie jemand, der glaubt, mit geschlossenen Augen sei das Schlimmste leichter zu ertragen. Ich lag rücklings in meinem Bett und konnte mich nicht rühren, weil er mich an meinen Schultern festhielt. Mit aller Kraft stieß ich ihn von mir weg, sprang aus dem Bett und rannte aus meinem Zimmer.
Bei Rahel, meiner kleinen Schwester, fiel das Licht durch die offene Tür. Esther, meine große Schwester, saß auf der Bettkante, hielt Rahel fest ihn ihren Armen und weinte. Wieder schrie ich: „Was ist los? Wo ist Mama? Was ist passiert?“
Hinter mir hörte ich jetzt Vater keuchen: „Mama lebt nicht mehr. Mama ist gestorben – im Auto. Beide sind tot. Mama und Onkel Maximilian. Ein Unfall.“
Vor mir meine Schwestern: die Große, vom Weinkrampf geschüttelt, die Kleine wie leblos in ihren Armen. Ich trat näher und legte Rahel die Hand an die Wange. Ich vergewisserte mich, dass sie bei Bewusstsein war. Vater stand hinter mir, aber ich drehte mich nicht um. Ich wollte ihn auf keinen Fall ansehen. Mir war schon beim ersten Anblick schlecht geworden, beim zweiten würde ich mich sicher übergeben.
Das ist es, was sich mir von dieser Neujahrsnacht ins Gedächtnis grub. Esthers Verzweiflung, Rahel auf ihrem Schoß, die Zartheit ihrer Wange, und hinter mir dieses Stöhnen und Keuchen: „Mama lebt nicht mehr.“
Später mussten wir eine Pille schlucken, von der wir nach ein paar Minuten wegdämmerten. Unser Vater, der Pfarrer Thomas Beck, las uns drei Kindern so lange Psalmen vor, bis wir das Bewusstsein verloren.
Thomas Beck und Maximilian von Wedel hatten ihr Theologiestudium im Jahr 1963 begonnen. Sie waren sich am ersten Tag des ersten Semesters begegnet und schon bald dicke Freunde geworden. Thomas Beck wollte schon immer Gemeindepfarrer werden, Maximilian von Wedel Seelsorger im Gefängnis oder in der Psychiatrie. Nachdem sie ihr Studium abgeschlossen hatten, lernten sie die Schwestern Angelika und Renate Sonntag kennen. Thomas heiratete Angelika und Maximilian heiratete Renate. Beide Ehepaare hatten drei Kinder, die Becks zwei Mädchen und einen Jungen, die von Wedels zwei Jungen und ein Mädchen. Pfarrer Beck bekam seine Gemeinde und Seelsorger von Wedel seine Sträflinge und seine Patienten.
In der Neujahrsnacht 1987 nahmen die Ehepaare an einer Silvesterfeier teil. Kurz nach Mitternacht brachte Thomas Beck seine Schwägerin Renate von Wedel nach Hause, weil sie Migräne bekam. Maximilian von Wedel blieb Angelika Beck zuliebe, weil sie die Party noch nicht verlassen wollte. Er hatte nichts getrunken, sie dagegen hätte nicht mehr fahren dürfen. Wenige Stunden später überfuhr ein schwer alkoholisierter Verkehrsteilnehmer eine Ampel bei Rot. Maximilian hatte Grün und wollte links abbiegen. Sein Auto wurde frontal von dem anderen erfasst. Angelika Beck und Maximilian von Wedel starben an der Unfallstelle. Sie ließen den Pfarrer Thomas Beck als Witwer, Renate von Wedel als Witwe sowie sechs Kinder als Halbwaisen zurück.
An die Jahre nach der entsetzlichen Neujahrsnacht 1987 erinnere ich mich kaum beziehungsweise nur ganz schwach und ungenau. Ich weiß eigentlich nur, dass ich meine Gefühle nicht mehr wahrnahm. Ich wusste nicht, was ich fühlte, ob ich überhaupt noch etwas fühlte. Ich fragte mich immer wieder, ob ich noch am Leben war, so unwirklich war das Fehlen meiner sämtlichen Empfindungen für mich. Von den vielen kleinen Begebenheiten und Umständen, die den Familienalltag ausmachten, weiß ich nichts mehr. Aber es geschahen auch unvergessliche Dinge und selbstverständlich habe ich das Gedächtnis an jene Jahre meiner Kindheit nicht vollständig verloren. An Ereignisse außerhalb der Familie kann ich mich eigenartigerweise noch am ehesten erinnern.
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