Die eine wahre Liebe
Roman von Raya Mann
Lektorat Nina Eisen
Serenus starb am 29. August 2014 auf dem Rückweg in die psychiatrische Klinik. Ganz in der Nähe, auf einer Autobahnraststätte, nahm er den Anruf seiner Psychiaterin entgegen. Doktor Tina Jung teilte ihm mit, dass sie auf ihn wartete, und bat ihn sofort loszufahren. Serenus fragte sie nur, ob Agnes bei ihr sei. Bei der nächsten Ausfahrt nahm er die Bundesstraße. Kurz darauf geriet er mit überhöhter Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn und prallte frontal auf einen entgegenkommenden Reisebus.
Zu diesem Zeitpunkt war Serenus drei Monate lang in der Klinik gewesen. Ich machte seinen Klinikaufenthalt zum Gegenstand meines ersten erzählerischen Textes. Nach dem Unglück begann ich sofort mit der Niederschrift und beendete sie nach sieben Wochen, in denen ich nichts Anderes tat als schreiben. In Agnes betet klammerte ich meine Person vollständig aus. Das jedoch war ein entscheidender Irrtum, den mir erst die späteren Ereignisse vor Augen führten.
In den folgenden Monaten erkannte ich, dass ich keine Ruhe finden würde, bevor ich nicht meinen persönlichen Bericht über Die eine wahre Liebe so wirklichkeitsgetreu wie möglich zur Tastatur gebracht hätte. Also machte ich mich an meine zweite Erzählung. Dass ich mich nicht leicht damit tat, wird bei der Lektüre spürbar sein. Das ist meine Hoffnung, denn andernfalls hätte sich die Mühe nicht gelohnt.
Dass Serenus seine eigenen Memoiren bereits aufgezeichnet hatte, konnte ich nicht wissen. Ich erfuhr es erst im Nachhinein, als Agnes das Manuskript aus seinem Versteck holte. Als ich es zum ersten Mal las, erschrak ich, denn Serenus hatte meine Person in seinem umfangreichen und detailverliebten Werk mit keinem einzigen Wort erwähnt. Bis ich begriff, dass der Sinn seiner Lebensbeichte genau darin bestand, eine Geschichte zu erzählen, welche die eine wahre Liebe aussparte.
Somit liegen drei Texte vor, in denen Serenus die Hauptfigur ist. Es handelt sich, wenn mich mein Gefühl nicht trügt, um eine beklemmende Trilogie.
Vor sieben Jahren war ich als junge Dozentin in diese Stadt gekommen, in die kleinste Universitätsstadt der Schweiz. Ich war soeben von der Arbeit nach Hause zurückgekehrt. Nun freute ich mich auf einen freien Abend in meinem Haus an der Route de la Glâne. Ich saß vor meinem Mac und sah ihm beim Hochfahren zu. Thunderbird ging auf und im unteren Fenster erschien die neueste Nachricht, die ich unwillkürlich überflog.
„Nein! Lies diese Mail nicht!“
Ich schrie diesen Befehl und wusste, wie absurd er war. Zu spät. Die Worte waren schon in mein Bewusstsein eingedrungen. Meine Stimme hörte sich an, als stünde ich drei Schritte neben mir. Ich musste mich zwingen, mich nicht nach mir selber umzusehen. Ich starrte auf den Monitor und wiederholte so gefasst, wie es mir irgend möglich war: „Nein, lies diese Mail nicht …“
Gleichzeitig wollte ich den Kopf schütteln. Aber das gelang mir nicht. Mein Nacken war starr. Ich atmete kurz und flach. Das Zischen der Atemzüge schien aus dem Bildschirm vor mir zu kommen. Es war fast so, als könnte ich das Geräusch sehen, als bliese ich Luft durch die Zeilen des Textes. Indem ich die Augen schloss, wurde es völlig still. Ich war ganz allein und ganz klein.
So blieb ich sitzen: taub, stumm, blind und gelähmt. Ich wartete darauf, dass meine Gedanken zurückkämen und fürchtete mich vor den Gefühlen, die sich auf mich stürzen würden. Als ich mich endlich, mit geschlossenen Augen, erhob, kam es mir vor wie ein Versehen. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich mich wenden sollte. So blieb ich hinter dem Stuhl stehen, bis meine Hände schmerzten. Ich hielt sie zu Fäusten verkrampft und konnte sie nicht mehr öffnen. Ich holte tief Luft und schrie so laut und so lange ich konnte. Der Schrei war so schrecklich, dass kein Mensch ihn hätte ertragen können, kein Mensch außer demjenigen, der ihn ausstieß. Aber nun ließen sich meine Finger wieder strecken.
Die ganze Nacht lag ich in meinen Kleidern auf dem Bett. Ich wusste nicht, ob ich schlief oder bei Bewusstsein war. Manchmal schwirrten Gedanken durch mich hindurch, und es kam mir vor, als ob ich träumte, dass ich nachdachte und nicht steuern könnte, was ich denken wollte, dass ich ebenso wenig aufhören könnte, von herumschwirrenden Gedanken zu träumen. Gleichzeitig glaubte ich wach zu sein, aber es war doch nur eine Art Traum vom Wachsein. Mitten in der Nacht schreckte ich davon auf, dass ich weinte und schrie. Ich fühlte eine ätzende Wut, die sich in mir ausdehnte und siedend heiß durch die Poren meiner Haut drang. Tränen des Zorns und der Enttäuschung drangen durch meine Lider, bis das Kopfkissen davon getränkt war.
Ich erwachte bei Tagesanbruch, weil in meinem Kopf die Amseln ihre Lieder schmetterten. Es tat höllisch weh. Auch meine Muskeln schmerzten und meine Kleider waren klamm vom Schweiß. Ich tastete mich ins Bad, suchte die Codeintropfen gegen meine prämenstruelle Migräne aus dem Spiegelschrank und füllte ein Zahnputzglas mit Wasser. Ich schätzte fünfzig Tropfen ab und setzte mich auf die Kloschüssel, wo ich meine Medizin schluckte und gleichzeitig Wasser ließ. Nachdem ich das Sekretariat der Fakultät angerufen und auf dem Anrufbeantworter die Nachricht hinterlassen hatte, dass ich nicht an der Wochenbesprechung teilnehmen könne und erst am Nachmittag zur Arbeit käme, zog ich meine Kleider aus. Ich nahm eine Dusche, trocknete mich ab und streifte ein frisches Nachthemd über. Ich bezog mein Bett neu, und als ich mich hineinlegte, begann das Codein zu wirken. Leichtigkeit durchflutete mich, das Rauschen in meinen Ohren verklang und ich schlief ein.
Kurz nach zehn weckte mich das Telefon. Als ich abnahm, meldete sich Eva. Ich sagte bloß „Hallo“ und ließ sie reden. Das dauerte ein paar Minuten, dann verstummte sie. Wir schwiegen beide. Nach einer Weile fragte sie:
„Was hast du? Ist etwas mit dir?“
„Eine Mail … von Serenus … gestern Abend …“
Eva war meine Kusine. Sie war schon seit vielen Jahren meine beste Freundin und die einzige Person, die alles über mich und Serenus wusste.
„Du meine Güte!“, rief sie aus. Ich hörte sie seufzen und Zahlen murmeln.
„Sieben Jahre lang verschollen. Oder acht? Und jetzt eine Mail. Etwas Schlimmes?“
„Ich glaube nicht. Oder doch? Keine Ahnung. Eigentlich schreibt er nichts. Es hört sich an, als sei er gestern in eine Klinik aufgenommen worden. Egal …“
„Aber warum schreibt er dir?“
„Willst du das wirklich wissen?“
„Du nicht?“
„Scheiße, nein! Ich habe die Mail zwar nur überflogen, aber das hat mich schon fertiggemacht. Ich habe Schlimmes durchgestanden letzte Nacht.“
Ich stieg aus dem Bett und huschte die Treppe hinunter. Als ich mich an den Schreibtisch setzte, fragte Eva:
„Bist du noch dran?“
Der Mac war noch eingeschaltet. Ich drückte eine beliebige Taste und der Bildschirm leuchtete auf.
„Soll ich sie dir vorlesen?“
„Ist das eine gute Idee?“, fragte Eva zurück.
„Wem sonst, wenn nicht dir.“
Sie hörte mir beim Atmen zu. Schließlich fasste ich mich und sagte:
„Ich lese dir jetzt diese Mail vor und du passt gut auf.“
Montag, 2. Juni 2014, 18:53
Liebe Raya,
ich kam heute Morgen um zehn Uhr hier an. Ein Pfleger nahm mich in Empfang, stellte mir ein paar Fragen und erklärte mir ein paar Dinge. Er brachte mich zum Bettenhaus. Später kam eine Oberärztin, zwei Meter lang und ganz dünn. Sie war gut vorbereitet, stellte mir viele Detailfragen und gab mir viele Detailinformationen.
Am Nachmittag untersuchten mich der leitende Arzt und seine Assistentin. Das taten sie innen und außen sehr gründlich. Später gab es noch ein ekg, Blut- und Urinabnahme und dergleichen mehr. Gleich zu Beginn und dann alle zwei Stunden maßen sie den Blutdruck und warteten darauf, dass er anstieg. Ich begegnete nicht nur den Menschen, die hier arbeiten, sondern auch anderen Patienten und natürlich den anderen Rauchern!
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