Greifen wir nur ein einziges Motiv, wie z. B. das Lern- und Leistungsmotiv heraus, so findet man systematische interindividuelle Unterschiede (Dispositionen) in der Art und Stärke der Annäherung an einen angestrebten (motivbezogenen) Zielzustand. Um diesen Sachverhalt zu charakterisieren, sprechen wir vom individuellen Motivsystem (Rheinberg & Vollmeyer, 2019).
Interesse und intrinsische Motivation
Interessante Tätigkeiten gehen uns leicht von der Hand. Das Interesse an einer Fragestellung bringt uns dazu, ein einschlägiges Buch darüber zu lesen, ohne dass uns jemand dazu anhält oder dafür belohnt. Beobachtungen dieser Art sprechen dafür, dass das Interesse an einer Sache ein wichtiger Bestandteil der motivationalen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens ist. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigte man sich daher mit dem Interesse als motivationalem Faktor des Lernens (z. B. Dewey, 1913; Kerschensteiner, 1922). Eine systematische Interessenforschung und eine Untersuchung der motivationalen Auswirkungen von Interessen für das Lernen setzte jedoch erst im letzten Quartal des 20. Jahrhunderts ein (Krapp & Prenzel, 1992).
Aber was ist Interesse und wie wirkt es sich auf das Lerngeschehen aus? Mit Prenzel, Krapp und Schiefele (1986) lässt sich Interesse auffassen als eine besondere Beziehung einer Person zu einem Gegenstand. Ein solcher Gegenstand kann ein Objekt, ein Thema oder eine Tätigkeit sein.
Die Besonderheit einer interessenthematischen Beziehung äußert sich im subjektiven Erleben durch die Verbindung von positiven emotionalen Zuständen während der Interessenhandlung und einer hohen subjektiven Wertschätzung des Interessengegenstandes (emotionale und wertbezogene Valenz). (Krapp, 2018, S. 287)
Interesse führt zu einer »epistemischen Orientierung« (Prenzel, 1988), die sich vor allem für komplexe Lernziele als außerordentlich hilfreich erweist: Dem Interesse an einer Sache folgt der Wunsch, mehr über diese Sache zu erfahren, sich ausführlicher zu informieren und das eigene Wissen immer wieder zu aktualisieren. Nicht selten geht mit diesem Wunsch eine Identifikation mit dem Gegenstand des Interesses einher, was nicht ohne Auswirkungen auf die Ausformung des Bildes bleibt, das Personen von sich selbst haben (Hannover, 1998).
Krapp (2018) beschreibt in der pädagogisch-psychologischen Interessenforschung zwei unterschiedliche Forschungstraditionen. In der einen Tradition werden vorrangig situationsspezifische Prozesse fokussiert. Streng genommen handelt es sich dabei um die Analyse von Interessantheit (situationales Interesse). Empfindet eine lernende Person ein Thema oder eine Situation, in der ein Lernstoff dargeboten wird (z. B. eine bestimmte Unterrichtsstunde) als interessant, so hat das den Vorteil, dass sich sein kognitives System auf einem optimalen Funktionsniveau befindet. Vor allem die Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung und des Arbeitsgedächtnisses (
Kap. 2.1) funktionieren dann »auf hohem Niveau«, da die starke Valenz der Lernanforderung potenziellen Ablenkungen durch aufgabenirrelevante Reizinformationen wenig Raum lässt. Im Zusammenhang mit dem Unterrichtsmerkmal der »Klassenführung« (
Kap. 7.2) werden wir darauf zurückkommen.
Die zweite von Krapp (1998, 2018) beschriebene Linie der Interessenforschung beschäftigt sich mit situationsübergreifenden interindividuellen Differenzen. Dort werden Interessen als individuelle Dispositionen betrachtet. Im Kontext akademischen Lernens sind hier vor allem thematische Interessen angesprochen. Diese haben sich unabhängig von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten der Lernenden als bedeutsame Prädiktoren erfolgreichen Lernens erwiesen (Evans, 1971). Schiefele, Krapp und Schreyer (1993) trugen die empirischen Daten aus 21 einschlägigen Studien im Zeitraum zwischen 1965 und 1990 zusammen und fanden einen durchschnittlichen Zusammenhang von r = .30 zwischen Interesse und Lernleistung. Es zeigten sich dabei allerdings beträchtliche Unterschiede zwischen den Fächern: Während das thematische Interesse relativ viel zum Lernerfolg in Mathematik, Physik, Chemie und in den Fremdsprachen beizutragen scheint, ist seine Rolle sehr viel bescheidener in Fächern wie Biologie, Sozialkunde und im Literaturunterricht. Interessanterweise fiel der Zusammenhang zwischen Interesse und Lernerfolg für Jungen generell höher aus als für Mädchen, was vielleicht ein Hinweis darauf ist, dass Mädchen eher als Jungen bereit sind, sich ungeachtet ihrer Interessen in allen Fächern anzustrengen.
Beispiel: Interessanter Unterricht
Der Wunsch lernwilliger Schüler nach »interessantem« Unterricht ist angesichts der positiven Auswirkungen auf die Informationsverarbeitung durchaus verständlich. Die Forderung nach interessantem Unterricht ist jedoch leichter formuliert als umgesetzt. Zwar gibt es vielfältige didaktische Konzepte, um Unterricht interessant zu machen, aber Interessantheit ist nur in begrenztem Maße objektivierbar. So unterscheiden sich Lernende darin, ob sie eine Lernsituation für interessant halten oder nicht. Ein und dieselbe Unterrichtssituation kann von manchen Lernenden als interessant, von anderen aber als uninteressant empfunden werden.
Die Ergebnisse einer Längsschnittstudie von Köller, Baumert und Schnabel (2001) zum Zusammenhang zwischen Interesse an Mathematik und den Mathematikleistungen vom Ende der 7. bis Mitte der 12. Klasse sprechen dafür, dass sich der leistungsförderliche Einfluss des Interesses während der Sekundarstufe verändert: Ist das mathematische Interesse in der Sekundarstufe I eher geringfügig mit der Mathematikleistung assoziiert, nimmt die Stärke der Beziehung in der Sekundarstufe II deutlich zu, was sich vor allem an den Kurswahlen in der gymnasialen Oberstufe zeigt. Die Autoren vermuten, dass das Lernverhalten der Jüngeren noch vorrangig durch von außen gesetzte Anreize (z. B. durch häufige schriftliche Leistungsproben) reguliert wird, während in der Oberstufe die extrinsischen Anreize an Bedeutung verlieren und das Streben nach Selbstbestimmungsmöglichkeiten zunimmt. Ein höherer Grad an Selbstbestimmung lässt auch den Einfluss des Interesses auf die Regulation des eigenen Lernverhaltens ansteigen.
Möglicherweise wird der Einfluss des Interesses auf den Lernerfolg über die vermehrte Nutzung strukturierender und generativer Lernstrategien vermittelt (
Kap. 2.3). Der empirische Nachweis dieser Annahme ist zwar bisher nur in Teilen gelungen (z. B. Schiefele, Wild & Winteler, 1995). Man vermutet jedoch, dass vor allem dann, wenn den Lernenden relativ große Spielräume bei der Auswahl und Bearbeitung eines Lerngegenstandes eingeräumt werden, das vorhandene Sachinteresse die Qualität der Strategienutzung mit beeinflussen wird (Krapp, 1998).
Die thematischen Interessen sind eng verknüpft mit dem auch in der Umgangssprache mittlerweile weit verbreiteten Begriff der intrinsischen Motivation bzw. der intrinsischen Handlungsvalenz. Intrinsisch motiviert sind solche Verhaltensweisen, die kein offensichtliches Ziel außerhalb der Handlung selbst besitzen (Koch, 1956). Dabei kann der Wunsch, ein Verhalten auszuführen, durch Eigenschaften des Gegenstandes ausgelöst sein (gegenstandszentrierte intrinsische Motivation) oder aber durch die Freude an der Ausführung einer Handlung (tätigkeitszentrierte intrinsische Motivation). Sportliche Aktivitäten liefern bisweilen ein gutes Beispiel für das Phänomen der tätigkeitszentrierten intrinsischen Motivation: Der Jogger fühlt sich beim regelmäßigen Laufen gut; der Hobby-Fußballer erfreut sich am Balltreten auch dann, wenn es gar keinen Wettkampfcharakter hat.
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