710
Die Voraussetzungen für den sofortigen Vollzug sind in § 6 Abs. 2 VwVG geregelt. Erforderlich ist danach zunächst, dass entweder eine rechtswidrige Tat verhindert werden soll, die einen Straf- oder Bußgeldtatbestand verwirklicht, oder dass er zur Abwendung einer drohenden Gefahr notwendigist. Das Merkmal der Notwendigkeit impliziert, dass ein gestrecktes Vollstreckungsverfahren nicht möglich ist oder gleich wirksam wäre[63].
711
Darüber hinaus muss die zuständige Behörde „im Rahmen ihrer Befugnisse“handeln. Dazu müssen alle formellen und materiellen Voraussetzungen für ein Einschreiten vorliegen. Da im Fall des § 6 Abs. 2 VwVG aus Dringlichkeitsgründen zuvor gerade kein VA vorausgeht, sind an dieser Stelle die Voraussetzungen einer fiktiven Grundverfügung zu prüfen. Sie ist deswegen fiktiv, weil sie gerade nicht erlassen wurde. Anders als beim gestreckten Verfahren (s.o. Rn 701) ist diese fiktive Grundverfügungnicht nur auf ihre Wirksamkeit, sondern auf ihre Rechtmäßigkeithin zu untersuchen[64]. Diese unterschiedliche Behandlung findet ihre Rechtfertigung im Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG: Denn in der Situation des § 6 Abs. 2 VwVG bestehen im Unterschied zu § 6 Abs. 1 VwVG keine sonstigen Möglichkeiten zur Prüfung der vollständigen Rechtmäßigkeit unter Einbeziehung der Verhältnismäßigkeit.
712
Liegen die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 VwVG vor, so darf die Behörde auch dann vollstrecken, wenn ein Grundverwaltungsakt erlassen worden ist oder wenn ein Zwangsmittel wegen Eilbedürftigkeit nicht angedroht oder festgesetzt werden kann. Die Zulässigkeit eines solchen verkürzten Verfahrensergibt sich in einem Erst-recht-Schluss aus § 6 Abs. 2 VwVG[65]. Die Vorschrift ist in solchen Fällen daher analog anzuwenden[66]. Fraglich erscheint allerdings, ob auch in solchen Konstellation die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung zu prüfen ist[67] oder lediglich deren Wirksamkeit[68]. Hier sollte nach dem Grundgedanken der unterschiedlichen Behandlung zwischen gestrecktem Vollstreckungsverfahren und sofortigem Vollzug differenziert werden: Wenn und soweit Rechtsschutz gegen die Grundverfügung möglich ist, genügt deren Wirksamkeit. Anderenfalls – und damit wohl im praktischen Regelfall – bedarf es einer Überprüfung der Rechtmäßigkeit.
713
Der sofortige Vollzug bzw. die unmittelbare Ausführung sind nach dem Gesagten zwar als Realakte einzuordnen (s.o. Rn 707). Deshalb wären grundsätzlich die allgemeine Leistungsklage bzw. die allgemeine Feststellungsklage statthaft. Allerdings hat der Bundesgesetzgeber für den sofortigen Vollzug nach § 6 Abs. 2 VwVG in § 18 Abs. 2 VwVG angeordnet, dass auch insoweit die Rechtsmittel gegen Verwaltungsaktestatthaft sind, also Widerspruch, Anfechtungsklage sowie im Fall der Erledigung die Fortsetzungsfeststellungsklage[69].
714
Lösung Fall 21 ( Rn 677):
Es liegt eine Gefahr vor. A ist Zustandsstörer und zu ihrer Beseitigung auf seine Kosten verpflichtet. Diese Folge ergibt sich aus allgemeinem Polizeirecht. P muss den A nicht auffordern, die Bombe zu entfernen, sondern darf sofort handeln, § 6 Abs. 2 VwVG. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 10 VwVG. Die Polizeibehörde hat A die Kosten für die Delaborierung mit Recht in Rechnung gestellt[70].
Ausbildungsliteratur:
App, Einführung in das Vollstreckungsrecht, JuS 2004, 786; Enders/Jäckel, Polizei- und Ordnungsrecht – Umweltschädlicher Kraftstoffdiebstahl, JuS 2018, 150 (Fallbearbeitung zur unmittelbaren Ausführung); Erichsen/Rauschenberg, Verwaltungsvollstreckung, JURA 1998, 31; dies., Rechtsschutz in der Verwaltungsvollstreckung, JURA 1998, 323; Gusy, Verwaltungsvollstreckung am Beispiel der Vollstreckung von Polizeiverfügungen, JA 1990, 296 und 339; Henneke, Verwaltungszwang mittels Zwangsgeld, JURA 1989, 7 und 64; Muckel, Verwaltungsvollstreckung in der Klausur, JA 2012, 272 und 355; Otto, Cafétische in der Sackgasse?, AL (Ad Legendum) 2018, 191 (Fallbearbeitung zur Ersatzvornahme); Voßkuhle/Wischmeyer, Verwaltungsvollstreckung, JuS 2016, 698.
§ 17 Der öffentlich-rechtliche Vertrag
715
Fall 22:
Das Unternehmen U will in der Gemeinde G eine größere Industrieanlage mit dazugehöriger Wohnhausbebauung errichten. Der Bürgermeister von G zeigt sich interessiert, gibt U aber zu erkennen, dass die Gemeinde derzeit nicht in der Lage sei, die erforderlich werdenden kommunalen Folgeeinrichtungen (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser) zu finanzieren. Nach langen Verhandlungen vereinbaren U und G in einem schriftlichen Vertrag, bei dessen Abschluss die Gemeinde ordnungsgemäß vertreten ist, im Wesentlichen Folgendes: Die Gemeinde verpflichtet sich, einen Bebauungsplan zu erlassen, der in einem näher bestimmten Gebiet Industrieansiedlung mit Wohnhausbebauung vorsieht. U verpflichtet sich, die Industrieanlage zu errichten und für jede errichtete Wohneinheit einen einmaligen Betrag von € 5000 an die Gemeinde zu zahlen, um die Finanzierung der Infrastruktureinrichtungen sicherzustellen. – Nachdem U mit der Planung begonnen hat, weigert sich die Gemeindevertretung, den von der Verwaltung vorgelegten Bebauungsplan zu beschließen. U verlangt auf der Grundlage des Vertrags den Erlass des Bebauungsplans. Zu Recht? Rn 813
I. Die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Vertrags
716
Der VA bildet zwar nach wie vor das klassische Handlungsinstrument der öffentlichen Verwaltung. Vor dem Hintergrund eines gewandelten Staat-Bürger-Verhältnisseshat aber der öffentlich-rechtliche Vertrag (im Folgenden örV) zunehmend Anerkennung gefunden[1]. Denn als kooperatives Handlungsinstrument ist er dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und auch der Akzeptanz zuträglich[2]. Seine grundsätzliche Zulässigkeit wird in § 54 S. 1 ausdrücklich anerkannt. Danach kann ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts durch einen örV begründet, geändert oder aufgehoben werden, soweit Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen[3].
717
Der örV weist eine Doppelnaturauf[4]. Er ist zunächst Bestandteil und Abschluss eines Verwaltungsverfahrens i.S.d. § 9. Zugleich ist er materiell-rechtliches Rechtsgeschäft. Denn er ist auf die Begründung, Änderung oder Aufhebung eines Rechtsverhältnisses gerichtet.
718
Die §§ 54 – 62 gelten seit dem Inkrafttreten des VwVfG (s.o. Rn 100) nahezu unverändert. Seit dem Jahre 2004 liegt jedoch ein Bund-Länder-Musterentwurf zur Fortentwicklung der §§ 54 ffvor[5]. Insbesondere soll darin der neue Vertragstyp eines Kooperationsvertrags Eingang in das VwVfG finden. Damit soll insbes. den Anforderungen an eine Public Private Partnership nach modernem Verständnis Rechnung getragen werden[6].
719
Die zentralen Rechtsgrundlagen für örVe bilden §§ 54 ff. Sie enthalten jedoch – abgesehen von §§ 55, 56 – nur wenige detaillierte Bestimmungen. In § 62 S. 1 wird daher die ergänzende Geltung der sonstigen Bestimmungen des VwVfGangeordnet. Zu den für den örV relevanten Bestimmungen gehören etwa die Vorschriften zur Befangenheit nach §§ 20 f, die bereits im Zusammenhang mit dem VA behandelt wurden (s.o. Rn 480)[7]. Darüber hinaus kommen gemäß § 62 S. 2 die Vorschriften des BGBzur ergänzenden Anwendung. Besondere Bedeutung erlangen die Regelungen zu den Leistungsstörungen (dazu unter Rn 811)[8]. Schließlich sind die inhaltlichen Detailregelungen oftmals im Fachrechtenthalten. So wird der Abschluss städtebaulicher Verträge maßgeblich durch §§ 11 f BauGBgesteuert[9]. Die folgenden Darstellungen konzentrieren sich auf die §§ 54 ff.
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