6. Rechtsfolgen des Widerrufs
646
Nach § 49 Abs. 4 wird der widerrufene VA mit dem Wirksamwerden des Widerrufs unwirksam, es sei denn, die Behörde bestimmt einen späteren Zeitpunkt. § 49 Abs. 4 ergänzt §§ 43 Abs. 2 und 49 Abs. 1–3. Dabei kann ein sonstiger begünstigender VA nach Abs. 2 nur mit Wirkung für die Zukunftwiderrufen werden. Im Unterschied dazu kommt bei einem geldwerten VA nach Abs. 3 auch ein Widerruf mit Wirkung für die Vergangenheitin Betracht. Eine solche ex-tunc-Wirkung ist auch erforderlich, wenn die Behörde geldwerte und ähnliche Leistungen zurückfordern möchte. Denn wenn sie in diesen Fällen lediglich mit einer ex-nunc-Wirkung widerriefe, würde der VA einen Grund bilden, die erlangte Leistung zu behalten. Zum Ausdruck kommt dieses Erfordernis einer ex-tunc-Wirkung in § 49a Abs. 1 S. 2: Danach sind erbrachte Leistungen nur dann zu erstatten, wenn der VA mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben wurde (dazu ausf. Rn 919).
647
Nach § 49 Abs. 6 steht demjenigen, der vom Widerruf eines VA betroffen ist, unter bestimmten Voraussetzungen ein Ersatz des Vermögensnachteilszu. Ein Ersatz des Vermögensnachteils wird nur gewährt in den Fällen des § 49 Abs. 2 (S. 1) Nrn 3–5. Die Nrn 1 und 2 des § 49 Abs. 2 sind bewusst nicht aufgenommen worden, weil in diesen Fällen der Begünstigte des VA mit einem Widerruf rechnen musste, Nr 1, bzw der Widerruf durch sein Verhalten bedingt war, Nr 2. Der Begünstigte muss ferner auf den Bestand des VA vertraut haben; sein Vertrauen muss schutzwürdig sein – insoweit gilt § 48 Abs. 3 S. 3–5 entsprechend; auf die insoweit gemachten Ausführungen ist zu verweisen (s.o. Rn 622 ff).
648
Nach § 49 Abs. 6 S. 3 ist für Streitigkeiten über die Entschädigung der ordentliche Rechtsweggegeben. Die gesetzgeberische Entscheidung beruht auf folgendem Umstand: Es ist möglich, dass es sich bei dem Anspruch nach § 49 Abs. 6 um einen Anspruch aus Enteignung oder aus Aufopferung handelt, für die Art. 14 Abs. 3 S. 4 GG den Rechtsweg zu den Zivilgerichten vorschreibt (dazu Rn 1017). An dieser Rechtswegregelung kann das VwVfG nichts ändern; als einfaches Gesetz ist es an die Aussagen des Grundgesetzes gebunden. § 49 Abs. 6 hat deshalb klarstellende Bedeutung.
VIII. Aufhebung unionsrechtswidriger Verwaltungsakte
1. Reichweite des Effektivitätsprinzips
649
Die Rechtswidrigkeit eines VA kann sich auch aus einem Verstoß gegen Unionsrecht ergeben. Dieses genießt gegenüber dem innerstaatlichen Recht Anwendungsvorrang. Zudem müssen beim Vollzug unmittelbar geltenden oder umgesetzten Unionsrechts das Äquivalenzprinzipund das Effektivitätsprinzipbeachtet werden (s.o. Rn 53). Letzteres besagt, dass eine Verwirklichung des Unionsrechts nicht vereitelt oder praktisch unmöglich gemacht werden darf[105]. Es ist gleichsam möglichst effektiv zu vollziehen. Allerdings hat der EuGH auch gewisse Grenzendes Effektivitätsgebots anerkannt: Insbes. kann der Grundsatz der Rechtssicherheit einer Aufhebung zeitliche Grenzen setzen[106]. In diesem Spannungsverhältnis sind die einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts auszulegen. Das Effektivitätsprinzip kann einerseits bewirken, dass „flexible“ Bestimmungen unionsrechtskonform auszulegen sind, andererseits entgegenstehendes Recht verdrängen[107].
2. Rücknahme belastender Verwaltungsakte
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Keiner „Nachjustierung“ der innerstaatlichen Vorschriften bedarf es grundsätzlich bei der Rücknahme belastender VAe[108]. Insbes. hat der EuGH die Normierung angemessener Ausschlussfristenals vereinbar mit dem Unionsrecht erachtet[109]. Zu einer Aufhebung trotz bereits eingetretener Bestandskraft sind die Behörden der Mitgliedstaaten nur dann verpflichtet, wenn besondere Umstände des Einzelfalles dies indizieren. Dies ist etwa bei der Perpetuierung eines Ausreiseverbots anzunehmen, weil dadurch die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Freiheiten in ihr Gegenteil verkehrt würden[110].
3. Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte
a) Unionsrechtlicher Rahmen für die Vergabe von Beihilfen
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Erhebliche praktische und zugleich klausurrelevanteAuswirkungen haben die Einwirkungen des Unionsrechts bei der Rücknahme begünstigender VAe. Dies gilt insbes. für die Rückforderung von Beihilfen, die nicht in Einklang mit dem Unionsrecht stehen[111]. Beihilfen sind nach dem Verständnis des Art. 107 AEUV staatliche Maßnahmen, welche in verschiedener Form die von einem Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen vermindern[112]. Der Begriff der Beihilfeentspricht in vielen Elementen demjenigen der Subvention, ist jedoch von dieser zu unterscheiden[113]. Die materielle Rechtmäßigkeit einer Beihilfe richtet sich nach Art. 107 AEUV[114], die formelle Rechtmäßigkeit nach Art. 108 AEUV, flankiert durch eine Verfahrens-VO. Insbes. sieht Art. 108 Abs. 3 AEUV ein Notifizierungsverfahren vor der Kommission vor: Nach dessen S. 1 muss die Kommission über jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung einer Beihilfe rechtzeitig unterrichtet werden[115]. Die Rückabwicklung einer rechtswidrig gewährten Beihilfe ist zweistufig ausgestaltet: Die erste Stufe bildet ein Rückforderungsbeschluss der Kommission. Die zweite Stufe bildet die Rückforderung der Beihilfe durch die Mitgliedstaaten vom Empfänger[116]. Sie richtet sich nach innerstaatlichem Recht, also regelmäßig nach § 48.
b) Auslegung des schutzwürdigen Vertrauens
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Das Unionsrecht kann sich zunächst auf die Auslegung des schutzwürdigen Vertrauens auswirken. Wegen des typischerweise hohen Betrages von Beihilfen werden diese oftmals von größeren Unternehmen beantragt. Aufgrund der geschäftlichen Erfahrungen dieser Unternehmen ist aber regelmäßig zu erwarten, dass die rechtlichen Anforderungen einer Beihilfengewährung bekannt sind. Daher wird in solchen Fällen häufig zumindest grobe Fahrlässigkeit i.S.d. § 48 Abs. 2 S. 3 Nr 3vorliegen. Zudem kann in solchen Konstellationen auch der Ausschlussgrund des § 48 Abs. 2 S. 3 Nr 2vorliegen, welcher kein Verschulden voraussetzt (s.o. Rn 616)[117]. Das Vertrauen ist daher regelmäßig nicht schutzwürdig[118].
c) Auslegung der Rücknahmefrist
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Nach dem zum innerstaatlichen Recht Gesagten wird die Aufhebungsfrist des § 48 Abs. 4 von der Rechtsprechung (sehr) behördenfreundlich im Sinne einer Entscheidungsfrist ausgelegt (s.o. Rn 628). Bei einer solchen Auslegung verbleiben nur wenige Fälle, in denen die Frist überschritten ist. Sollte dies bei einer rechtswidrig erlangten Beihilfe gleichwohl einmal der Fall sein, so kann deren Überschreitung nicht entgegengehalten werden. Vielmehr kann trotz Überschreitung aufhobenwerden[119].
d) Steuerung des Rücknahmeermessens
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Schließlich steuert das Unionsrecht auch das Rücknahmeermessen. Grundsätzlich muss über die Rücknahme nach pflichtgemäßem Ermessen entschieden werden (s.o. Rn 621). Handelt es sich jedoch um einen unionsrechtswidrigenBeihilfebescheid, so reduziert sich das Ermessen auf Null. Es mussalso aufgehoben werden[120]. Fraglich ist, welche Rechtsfolge eintritt, wenn eine Beihilfe wegen Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht lediglich formell rechtswidrig ist, jedoch materiell in Einklang mit Art. 107 AEUV steht. Hier sprechen gute Gründe dafür, die Beihilfe lediglich vorläufig zurückzufordern[121].
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