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Seit jeher umstritten ist der Fristbeginn. Nachdem dies zuvor innerhalb des BVerwGumstritten war, hat der Große Senat des Gerichts im Jahr 1984 die Frist als Entscheidungsfristgedeutet. Diese beginnt im Unterschied zu einer Bearbeitungsfrist erst dann zu laufen, wenn die Behörde vollständige Kenntnis der für die Rücknahmeentscheidung maßgeblichen Tatsachen hat[75]. Diese Ansicht ist jedoch zu Recht kritisiert worden[76]. Denn der von der Norm bezweckte Schutz des Bürgers wird hier geradezu in sein Gegenteil verkehrt. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass dann der einjährigen Entscheidungsfrist nach § 48 Abs. 4 eine regelmäßig lediglich einmonatige Rechtsbehelfsfrist nach §§ 70, 74 VwGO gegenübersteht. Immerhin hat das Gericht kürzlich judiziert, dass nach Verstreichen der Aufhebungsfrist die Rücknahme ausgeschlossen ist, wenn die Behörde nach Fristablauf erneut Ermittlungen aufnimmt oder ihr Ermessen neu ausübt[77]. § 48 Abs. 4 enthält allerdings keine Obergrenze für den Zeitraum zwischen Erlass des VA und der Kenntnisnahme von Tatsachen, die zur Annahme seiner Rechtswidrigkeit führen; ein Zeitraum von 52 Jahren ist aber bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen[78].
629
Umstritten ist auch, bei welcher Stelle die Kenntnis vorliegen muss. Da § 48 Abs. 4 explizit „die Behörde“ nennt, hätte es nahe gelegen, auf die für die Aufhebung zuständige Behörde in ihrer Gesamtheit abzustellen (s.o. Rn 121). Der Große Senat des BVerwG hat sich aber auch an dieser Stelle für eine (sehr) behördenfreundliche Interpretation entschieden: Danach ist auf den nach der internen Geschäftsverteilung zuständigen Amtswalterabzustellen (zum Begriff s.o. Rn 124)[79]. Auch diese Sichtweise ist jedoch auf berechtigte Kritik gestoßen: Denn der interne Informationsfluss liegt in der Verantwortung einer Behörde; dem Bürger können diesbezügliche Reibungsverluste nicht angelastet werden[80].
VI. Der Widerruf eines rechtmäßigen belastenden Verwaltungsakts
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Nach § 49 Abs. 1 kann ein rechtmäßiger nicht begünstigender VA, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden, außer wenn ein VA gleichen Inhalts erneut erlassen werden müsste oder aus anderen Gründen ein Widerruf unzulässig ist. Vertrauensschutzerwägungenkommen hier grundsätzlich nichtzum Tragen[81]. Deshalb bedarf es für den Widerruf eines belastenden VA im Unterschied zum Widerruf eines begünstigenden VA (s.u. Rn 634) keines besonderen Widerrufsgrunds. Im Regelfalle wird der Adressat sogar ein Interesse daran haben, dass die ihn belastende Maßnahme aufgehoben wird.
631
§ 49 Abs. 1 erfasst rechtmäßige VAe. Unzweckmäßige Ermessensentscheidungen sind rechtmäßig; rechtmäßig sind auch VAe, deren Verfahrens- oder Formfehler nach § 45 geheilt sind oder mit Unrichtigkeiten iSd § 42 behaftet sind[82]. Die negative Formulierung des § 49 Abs. 1 stellt sicher, dass nicht nur VAe, die den Betroffenen ein Tun, Dulden oder Unterlassen oder eine Geldleistung auferlegen, widerrufen werden können, sondern auch diejenigen VAe, die einen Anspruch ablehnen oder eine negative Feststellung enthalten. Ein nichtbegünstigender VA i.S. dieser Norm ist folglich ein belastender VA.
3. Ausübung des Widerrufs
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Der Widerruf ist gemäß § 49 Abs. 1 in folgenden Fällen gesetzlich ausgeschlossen: Ein belastender VA kann nicht widerrufen werden, wenn ein VA mit gleichem Inhalt erneut erlassen werden müsste. Das ist der Fall bei einer Ermessensreduzierung auf Nulloder bei einer Selbstbindungder Verwaltung. Der Widerruf eines belastenden VA entfällt ferner, wenn der Widerruf aus anderen Gründen unzulässig ist. Die weite Fassung des Gesetzes ermöglicht, Widerrufsverbote gesetzlichen Bestimmungen, dem Sinn und Zweck einer Regelung oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu entnehmen. Auch verwaltungsinterne Maßnahmen wie Verwaltungsvorschriften (s.o. Rn 73 f) oder Weisungen (s.o. Rn 332) können über die Selbstbindung der Verwaltung nach Art. 3 Abs. 1 GG iVm der Verwaltungspraxis einem Widerruf entgegenstehen[83]. Liegt keiner der genannten Ausschlussgründe vor, steht der Widerruf im Ermessen der zuständigen Behörde. Dabei sind die Grenzen des § 40 einzuhalten (s.o. Rn 210 ff). Nur sachgemäße Gründe erlauben daher den Widerruf. Zudem erlangt das Übermaßverbot besondere Bedeutung: Es ist immer zu prüfen, ob weniger einschneidende Mittel an Stelle des Widerrufs ergriffen werden können.
Beispiel:
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist verletzt, wenn der Zweck des Widerrufs nicht erreichbar ist[84].
4. Wirkungen des Widerrufs
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Der Widerruf kann ganz oder teilweiseerfolgen. Insoweit entscheidend ist die Teilbarkeit des VA. Der Widerruf kann nur mit Wirkung für die Zukunftausgeübt werden; ein rückwirkender Widerruf ist also nicht möglich.
VII. Der Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts
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Ein rechtmäßiger begünstigender VA kann nach Maßgabe des § 49 Abs. 2 und 3 widerrufen werden[85]. Die Interessenlage unterscheidet sich hier von derjenigen bei der Rücknahme eines rechtswidrigen VA (s.o. Rn 609): Denn anders als dort besteht hier kein Spannungsverhältnis zwischen den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Vertrauensschutzes. Das Vertrauen auf den Fortbestand des begünstigenden VA wird hier umgekehrt durch dessen Rechtmäßigkeit sogar gestützt[86]. Daher gibt es keine allgemeine Widerrufsmöglichkeit. Vielmehr muss ein besonderer Widerrufsgrundvorliegen. Die einzelnen Widerrufsgründe sind in § 49 Abs. 2 und 3 abschließend aufgelistet[87].
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§ 49 Abs. 2 und 3 erfasst begünstigende VAe. Auch rechtsgestaltende VAe dürfen widerrufen werden; allerdings ist zu prüfen, ob dieser Fall des VA im Einzelfall endgültigen Charakter haben soll[88]. Die Widerrufsmöglichkeit besteht unabhängig davon, ob der VA anfechtbar oder unanfechtbar ist. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslage eines rechtmäßigen oder rechtswidrigen VA ist überwiegend anerkannt, dass auch ein rechtswidriger VAbei Vorliegen eines Grundes nach § 49 Abs. 2 oder 3 widerrufen werden kann. Dem liegt ein Erst-recht-Schluss zugrunde: Wenn sogar ein entsprechender rechtmäßiger VA widerrufen werden dürfte, muss dies erst recht für einen rechtswidrigen VA gelten[89]. – Innerhalb des § 49 ist zu unterscheiden zwischen (sonstigen) begünstigenden VAennach Abs. 2 und geldwerten begünstigenden VAenach Abs. 3. § 49 Abs. 3 wurde anstelle des § 44a BHO aF in das VwVfG aufgenommen[90]. Die Abgrenzung zwischen Abs. 2 und 3 entspricht derjenigen im Rahmen des § 48 (s.o. Rn 610 f) und ist von erheblicher Bedeutung: Denn zum einen divergieren die Widerrufsgründe nach Abs. 2 und Abs. 3. Zum anderen kann ein Widerruf nach Abs. 2 nur mit Wirkung für die Zukunft erfolgen (ex nunc), während ein Widerruf nach Abs. 3 auch mit Wirkung für die Vergangenheit vorgenommen werden darf (ex tunc).
3. Widerrufsgründe nach § 49 Abs. 2 VwVfG
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Nach § 49 Abs. 2 Nr 1ist ein Widerruf zulässig, wenn er durch Rechtsvorschrift zugelassenoder im VA vorbehalten ist. Gesetze, die einen Widerruf erlauben, gibt es häufig:
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