Bei der Sicherstellung der Lärmvermeidung käme eine Nichtigkeit nach § 44 Abs. 2 Nr 4 in Betracht. Diese Bestimmung erfasst aber lediglich die tatsächliche Unmöglichkeit, nicht hingegen die vorliegende rechtliche Unmöglichkeit. Hier käme aber eine Nichtigkeit nach der Generalklausel des § 44 Abs. 1 in Betracht. Hier wären beide Lösungen vertretbar. Gegen einen schwerwiegenden Fehler spricht aber, dass auch im öffentlichen Straßenbereich Privatpersonen zur Unterstützung der Behörden eingebunden sein können und das Verhalten des A von B veranlasst wird.
Ausbildungsliteratur:
Brinktrine, Fehlerfolgen bei Verwaltungsakten und Satzungen, JURA 2021, 1036; Leopold, Die Umdeutung fehlerhafter Verwaltungsakte, JURA 2006, 895; Pünder, Die Folgen von Fehlern im Verwaltungsverfahren, JURA 2015, 1307; W.-R. Schenke, Rechtsschutz gegen nichtige Verwaltungsakte, JuS 2016, 97; Windoffer, Die Umdeutung fehlerhafter Verwaltungsakte gemäß § 47 VwVfG, JURA 2020, 791.
§ 15 Die behördliche Aufhebung von Verwaltungsakten
593
Fall 19:
A hat ein Gebäude im Harz geerbt. Er plant, es zum Betrieb eines Hotels zu nutzen, kann dieses Vorhaben jedoch mangels genügender Eigenmittel nicht verwirklichen. Auf Rat eines Fachmanns schließt er deshalb mit einem Hotelkonzern einen sog. Franchise-Vertrag ab, nach dem der Hotel-Konzern (Franchise-Geber) 60% der erforderlichen Investitionen übernimmt, während A als Franchise-Nehmer sich verpflichten muss, den Betrieb hinsichtlich Namen, Werbung, Service, Preisen und Ausstattung genau nach den Richtlinien des Franchise-Gebers zu führen und 4% des Umsatzes an diesen abzuliefern. A kann die verbleibenden Investitionskosten nicht aus eigener Kraft decken. Er beantragt bei der Norddeutschen Landesbank – einer Anstalt des öffentlichen Rechts – ein Darlehen in Höhe von € 500 000 nach einem (fiktiven) Mittelstandsförderungsgesetz (MfG), welches die Nord-LB vollzieht. Das Darlehen wird bewilligt und ausgezahlt. A hat die Zusammenarbeit mit dem Hotelkonzern und den vom Konzern gegebenen Investitionszuschuss angegeben, aber den Franchise-Vertrag nicht vorgelegt, was von ihm auch nicht gefordert worden war. Nach Kenntnisnahme von diesem Vertrag nimmt die Nord-LB die Kreditbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit zurück mit der Begründung, sie habe erst nachträglich von den Bindungen aus dem Vertrag erfahren; diese Bindungen ließen A nicht mehr als selbstständigen mittelständischen Unternehmer erscheinen, sodass das nun mit gleichem Bescheid zurückgeforderte Darlehen nicht hätte gewährt werden dürfen.
A hält diese Rechtsauffassung für unrichtig. Er weist darauf hin, er habe durchaus das geschäftliche Risiko zu tragen und müsse als Unternehmer Steuern zahlen. Jedenfalls genieße er Vertrauensschutz. Wie ist die Rechtslage?
Anmerkung:§ 1 Abs. 1 MfG lautet: „Subventionen dürfen nur zu dem Zweck vergeben werden, die Gründung einer selbstständigen Existenz der mittelständischen Wirtschaft zu erleichtern.“
Rn 659
I. Möglichkeiten der Aufhebung eines Verwaltungsakts
594
Die Wirksamkeit eines VA wurde bereits in anderem Zusammenhang behandelt. Sie tritt gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 mit der Bekanntgabe an den Adressaten ein (sog. äußere Wirksamkeit) und erfasst nach § 43 Abs. 1 S. 2 den bekannt gegebenen Inhalt (s.o. Rn 437 f). Ein nichtiger VA ist jedoch nach § 43 Abs. 3 unwirksam (s.o. Rn 546 ff). Die Wirksamkeit eines VA kann aber auch zunächst eingetreten, dann aber wieder entfallen sein. Diese Situation regelt § 43 Abs. 2: Danach bleibt der VA wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist (s.o. Rn 456 f). Demnach können fünf „Ereignisse“ die Wirksamkeit des VA beenden. Die Rücknahme und den Widerrufeines VA regeln die §§ 48, 49– diese Normen werden nachfolgend ausf. behandelt[1]. Die Bestimmungen der §§ 48 f sind von hoher Klausurrelevanz[2].
II. Vorrang von Sonderregelungen
1. Verdrängung durch Spezialnormen
595
Die §§ 48, 49 gelten allerdings nicht, wenn das VwVfG nicht zur Anwendung gelangt. Der Anwendungsbereich des VwVfG ist bereits dargelegt worden (s.o. Rn 103 ff). Dem VwVfG-Bund gehen bundesgesetzliche Vorschriften über die Rücknahme oder den Widerruf eines VA vor. Derartige Spezialvorschriftenkönnen in zweierlei Hinsicht bestehen: (1)In solchen Bereichen, die nach § 2 vom Geltungsbereich des VwVfG ausgenommen sind; (2)nach § 1 Abs. 1 und 2 – „soweit nicht Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten“.
Beispiele:
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Für den ersten Ausnahmefall ist bspw. auf die §§ 130, 172 ff AO[3] oder auf §§ 44 ff SGB X (Sa. Ergänzungsband Nr 410) hinzuweisen[4]. |
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Für den zweiten Fall sind zu nennen: § 15 GastG für die Gaststättenerlaubnis[5]; § 17 AtGfür atomrechtliche Genehmigungen; § 45 WaffG (Sa. I Nr 820) für waffenrechtliche Erlaubnisse[6]; § 14 BBGfür beamtenrechtliche Ernennungen[7]. |
596
Auch dann, wenn in einem Gesetz den §§ 48, 49 entsprechende Spezialregelungen fehlen, können die §§ 48, 49 im Einzelfall verdrängt sein. Das ist der Fall, wenn eine klare Zielsetzung des Spezialgesetzes dahin festgestellt werden kann, auf der Grundlage des § 1 die Vorschriften der §§ 48, 49 nicht zur Anwendung gelangen zu lassen.
Beispiel:
Die Rücknahme einer Aufenthaltsberechtigung nach dem (jetzt abgelösten) Ausländergesetz[8].
Demgegenüber kommt jedoch neben dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) § 48 ergänzend zur Anwendung[9]. Auch die Straßenverkehrszulassung-Ordnung enthält keine Sonderregelungen[10]. Schließlich kommt auch bei Planfeststellungsbeschlüssen eine Aufhebung nach § 48 als ultima ratio in Betracht, sofern nicht nachträgliche Schutzauflagen ausreichend sind[11].
2. Teilweise Modifizierung durch das Unionsrecht
597
Keine echte Verdrängung, aber doch eine erhebliche Modifizierung der Regelungen des § 48 bewirkt das Unionsrecht. Das Effektivitätsprinzip verlangt nach allgemeinen Grundsätzen, dass die Vorgaben des Unionsrechts bei der Anwendung des nationalen Rechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder unzumutbar erschwert wird (s.o. Rn 53). Relevant wird dies insbes. bei der Aufhebung eines unionsrechtswidrigen Beihilfebescheids: Der Anwendungsvorrang in Verbindung mit dem Effektivitätsprinzip verlangt hier die unionsrechtskonforme Auslegung flexibler Bestimmungen und führt zu einer Verdrängung entgegenstehenden innerstaatlichen Rechts (dazu ausf. Rn 649 ff)[12].
III. Grundstrukturen der §§ 48, 49 VwVfG
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Die §§ 48, 49 unterscheiden vier Grundfälleder Aufhebung eines VA; Ausgangspunkt für diese Grundfälle ist die Wirkung des VA für den Betroffenen:
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die Rücknahme eines rechtswidrigen belastenden VA, § 48 Abs. 1 S. 1; |
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die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden VA, § 48 Abs. 1 S. 2; |
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den Widerruf eines rechtmäßigen belastenden VA, § 49 Abs. 1; |
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den Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden VA, § 49 Abs. 2, 3. |
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Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeitbeziehen sich auf den ursprünglich erlassenen VA[13]. Tritt die Rechtswidrigkeit später ein, wirkt sie aber auf den Zeitpunkt des Erlasses des VA zurück, so handelt es sich um den Fall eines ursprünglich rechtswidrigen VA[14]. Die Rücknahme eines VA dient der Korrektur eines ursprünglichen Fehlers. Der Widerruf eines VA dient der Anpassung an eine veränderte Sach- oder Rechtslage; teilweise geht es auch einfach darum, den Fortbestand eines VA wegen mangelnden Interesses zu beseitigen[15].
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