Beispiele für besonders schwere Fehler:
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völlige Unbestimmtheit des VA[35]; |
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absolute sachliche Unzuständigkeit der erlassenden Behörde; |
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völlige Ungeeignetheit des Mittels zur Zielerreichung[36]; |
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Versetzung eines Nichtbeamten in den Ruhestand[37]; |
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Bewertung einer wissenschaftlichen Standards nicht genügenden Prüfungsleistung mit „gut“[38]; |
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Widmung mit faktisch enteignender Wirkung[39]. |
562
Die zweite Voraussetzung des § 44 Abs. 1, die Offensichtlichkeitdes Fehlers. Sie ist dann anzunehmen, wenn der VA den „Makel der Rechtswidrigkeit auf der Stirn“ trägt. Die Offensichtlichkeit muss gesondert festgestellt werden und ist nicht bereits durch die Schwere des Fehlers bedingt[40]. Sie ist auch dann zu verneinen, wenn die besondere Schwere des Fehlers erst später, insbes. nach einer Rechtsprechungsänderung, ersichtlich wird. Für die Beurteilung der Offenkundigkeit wird auf den urteilsfähigen unvoreingenommenen Bürger, den aufmerksamen und verständigen Staatsbürger als Durchschnittsbetrachter abgestellt. Weder das Erkenntnisvermögen des jeweils betroffenen Adressaten des VA noch die Betrachtungsweise einer juristisch geschulten Person ist entscheidend. Natürlich ist der „verständige Durchschnittsadressat“, auf den es somit ankommt, eine Kunstfigur. Seine Konkretisierung obliegt Juristen; diese entscheiden somit letztlich doch nach ihren Maßstäben, ob ein Fehler offenkundig ist.
2. Reichweite der Nichtigkeit
563
§ 44 Abs. 4 enthält eine Regelung über die Teilnichtigkeitdes VA. Dass eine Bestimmung – Gesetz, Vertrag – bei partieller Nichtigkeit nicht vollständig unwirksam sein soll, ist eine Aussage, die für das gesamte Recht gilt, s. § 78 BVerfGG, § 139 BGB. Nach § 44 Abs. 4 ist dann, wenn die Nichtigkeit nur einen Teil des VA betrifft, die Teilnichtigkeit des VA die Regel, die Nichtigkeit des gesamten VA die Ausnahme.
564
Die Teilnichtigkeit des VA setzt seine Teilbarkeitvoraus. Dieses ist unproblematisch bei Geldleistungs-VAen oder bei auf eine teilbare Sachleistung gerichteten VAen anzunehmen, § 48 Abs. 2 S. 1. Teilbarkeit ist ebenfalls anzunehmen bei einem VA, dem eine Auflage als Nebenbestimmung beigefügt ist; die Nichtigkeit der Nebenbestimmung lässt den VA unberührt. Ist hingegen der VA nichtig, gilt dies wegen der Akzessorietät der Auflage auch für diese[41].
565
Gesamtnichtigkeitist nur dann anzunehmen, wenn der nichtige Teil so wesentlich ist, dass die Behörde den VA ohne den nichtigen Teil nicht erlassen hätte. Entscheidend ist deshalb der mutmaßliche Behördenwille. Die Wesentlichkeit des nichtigen Teils des VA für den Gesamt-VA entscheidet sich nach objektiven Gesichtspunkten: Dieses muss so sein, weil für den Inhalt des VA nicht der Wille des Erklärenden, sondern der bekannt gegebene Inhalt entscheidend ist. „Wesentlich“ iSd Norm bedeutet, wie eine vernünftige Behörde bei Kenntnis der Sachlage entschieden hätte[42]. Dieses hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob die Behörde den VA ohne diesen Teil erlassen durfte.
3. Weitere Folgen der Nichtigkeit
566
Der nichtige VA ist, wie gesagt, unbeachtlich. Seine Nichtigkeitkann die Behörde jederzeit feststellen, § 44 Abs. 5 1. HS. Die Feststellung der Nichtigkeit eines VA kann ein Antragsteller bei Vorhandensein eines berechtigten Interessesbeantragen, § 44 Abs. 5 2. HS; ein berechtigtes Interesse ist anzuerkennen bei einem rechtlich oder wirtschaftlich begründeten Interesse[43]. Antragsteller kann deshalb jeder sein, der ein solches Interesse hat. Die Weigerung der Behörde, den von einem nichtigen VA erzeugten Rechtsschein zu beseitigen, erzeugt allein kein berechtigtes Interesse[44].
567
Ist ein VA nichtig, so kann seine Nichtigkeit nach § 43 Abs. 1, 2. Alt. VwGO durch eine Feststellungsklage festgestellt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat; sog. „Nichtigkeitsfeststellungsklage“[45]. Da es regelmäßig streitig sein wird, ob ein VA nichtig ist, ist zur Vermeidung von Nachteilen für den Kläger (Abweisung der Nichtigkeitsfeststellungsklage, weil VA lediglich rechtswidrig ist) die Anfechtungsklagenach § 42 Abs. 1 VwGO erlaubt[46].
III. Die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts
568
Jeder VA, der an einem der in § 13 des Lehrbuchs benannten Fehler leidet und entsprechend den zuvor unter Rn 548 ffgemachten Feststellungen nicht nichtig ist, ist rechtswidrig.
Typische Rechtsfehlersind:
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die Verletzung der Zuständigkeitsordnung außerhalb der Konstellationen nach § 44 Abs. 2 Nr 3 und Abs. 3 Nr 1, |
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Formfehler ohne gesetzlich angeordnete Nichtigkeitsfolge, |
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Verfahrensfehler, |
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Subsumtionsfehler (relative Gesetzlosigkeit des VA), |
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Ermessensfehler, |
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inhaltliche Unbestimmtheit, |
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subjektive Unmöglichkeit, |
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Verstoß gegen Grundrechte, |
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Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit[47]. |
Die Rechtswidrigkeit des VA berührt seine Wirksamkeit nicht, wie sich aus einem Umkehrschluss aus § 43 Abs. 3 ergibt. Eine – allerdings nur scheinbare – Ausnahme bildet ein VA, dessen Rechtswidrigkeit durch rechtskräftiges Urteil nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO festgestellt worden ist: Ein solcher entfaltet zwar ebenfalls keine Regelungswirkung[48]. Dies ist aber keine spezifische Folge der Fehlerhaftigkeit, sondern der Erledigung.
569
Die Rechtswidrigkeit des VA hat seine Aufhebbarkeitzur Folge. Die Aufhebung kann entweder die Behörde selbst vornehmen oder durch den Bürger erzwungen werden: mit Hilfe eines Widerspruchs, oder, falls der Widerspruch erfolglos bleibt, mit Hilfe der Anfechtungsklagenach § 42 Abs. 1 VwGO durch das Verwaltungsgericht. Man spricht vom rechtswidrigen VA deshalb auch als von einem anfechtbaren VA; dieser Sprachgebrauch ist sachlich unzutreffend, weil auch rechtmäßige VAe anfechtbar sind. Nur hat die Anfechtungsklage keinen Erfolg.
570
Ebenso wie ein VA nur teilnichtig sein kann, § 44 Abs. 4, kann ein VA auch nur teilweise rechtswidrigsein; an diesen Umstand knüpft § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO an, wenn dort die Rede davon ist, dass das Gericht den angegriffenen VA aufhebt, „soweit“ er rechtswidrig ist[49]. Voraussetzung dafür, nur einen Teil eines VA für rechtswidrig zu erklären, ist, dass der verbleibende Teil des VA noch einen selbstständigen Sinn behält. Ferner muss die Behörde befugt sein, den verbleibenden Teil allein zu erlassen. Handelt es sich um einen VA, der auf einer Norm basiert, die der Behörde Ermessen oder einen Beurteilungsspielraum zuspricht, dann muss der verbleibende Teil-VA dem Behördenwillen entsprechen.
IV. Die Heilung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts
1. Zweck und Reichweite des § 45 VwVfG
571
Die Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften, die den VA nicht nichtig macht, ist nach § 45 Abs. 1 in fünf Fällenheilbar[50]. Die größte praktische Bedeutung liegt in der Heilung eines Anhörungsfehlersnach § 45 Abs. 1 Nr 3. Entspricht das Nachholen den Anforderungen, entfällt der Fehler des VA. § 45 Abs. 1 basiert auf dem Gedanken, dass VAe, die ausschließlich in ihrer Entstehung Mängel aufweisen, in der Sache rechtmäßig sein können. Sanktionslose Vorschriften fördern allerdings die Neigung, ihre Anwendung aus vermeintlichen Gründen der Verwaltungseffizienz wie der Praktikabilität, Flexibilität, Beschleunigung und Vereinfachung des Verfahrens zu vernachlässigen[51]. Die Existenz sanktionsloser Verfahrensvorschriften wird mit dem Hinweis gerechtfertigt, das Verfahrensrecht habe gegenüber dem materiellen Recht nur eine dienende Funktion[52]. Das Verwaltungsverfahren unterliegt jedoch einem Bedeutungswandel. Immer stärker setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Verfahrenzwar keinen Selbstzweck, aber doch einen gewissen Eigenwertaufweist (s.o. Rn 170)[53]. Nochmals verstärkt wird diese Entwicklung durch die Einflüsse des Unionsrechts, das ebenfalls eine Aufwertung des Verfahrensgedankens fordert[54].
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