b) Subsidiaritätsklausel (§ 1 Abs. 1 VwVfG)
104
Das VwVfG findet ferner dann keine Anwendung, wenn Rechtsvorschriften des Bundes inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungenenthalten, § 1 Abs. 1 am Ende. Verwaltungsverfahrensrechtliche Spezialregelungen können in formellen Gesetzen und Rechtsverordnungen enthalten sein, nicht aber in Satzungen.
Beispiel:
Die 9. BImSchV – Verordnung über das Genehmigungsverfahren für genehmigungsbedürftige Anlagen iSd BImSchG (Sa. I Nr 296b) – enthält das VwVfG-Bund ersetzende Spezialregelungen.
In einigen Fachmaterien ist die Durchnormierung spezialgesetzlicher Verfahrensanforderungen bereits so weit vorangeschritten, dass dies die eingangs genannte Vereinheitlichungsfunktion des VwVfG in Fragestellt. Dies gilt etwa für das Planfeststellungsrecht, von dem viele bedeutsame Infrastrukturvorhaben (zB Bundesfernstraßen) erfasst werden[55]. Aber auch im E-Government-Gesetz des Bundes[56] wird das Verwaltungsverfahren nach dem VwVfG nicht unbeträchtlich modifiziert[57].
105
Die in § 1 Abs. 1 enthaltene Subsidiaritätsklausel gilt unmittelbar nur für das Bundesrecht. Die Ländergesetze enthalten aber ebenfalls eine Subsidiaritätsklausel. Soweit die Landesverwaltungsverfahrensgesetze zur Anwendung gelangen (s. dazu Rn 108ff), ist darauf zu achten, ob in Landesgesetzenverwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften enthalten sind. Verwaltungsverfahrensrechtliche Vorschriften finden sich in den Bauordnungen der Länder (etwa in §§ 63 ff BauO Berlin)[58]. Insofern sind die Regelungen des VwVfG nicht anzuwenden.
c) Ausnahmen für spezielle Bereiche (§ 2 VwVfG)
106
In § 2 sind Bereichsausnahmen vom Anwendungsbereich des VwVfG normiert. So werden etwa nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Verfahren nach der Abgabenordnung vom Anwendungsbereich des VwVfG ausgenommen, ebenso wie nach § 2 Abs. 2 Nr. 4 Verfahren nach dem Sozialgesetzbuch[59]. Die Ausnahmen sind in der Verwaltungspraxis von großer Bedeutung, spielen in den klassischen universitären Materien des Allgemeinen und Besonderen Verwaltungsrechts aber nur eine untergeordnete Rolle. Daher wird an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung verzichtet[60].
107
Lösung Fall 3 ( Rn 98):
A kann sein Begehren nicht auf §§ 28, 29 stützen. Das VwVfG-Bund ist nur subsidiär anwendbar, § 1 Abs. 1 am Ende. Rechte des A auf Anhörung etc ergeben sich aus §§ 10a, 12, 14 ff 9. BImSchV.
4. Der Anwendungsbereich der Ländergesetze
a) Vollzug von Landesrecht
108
Der Vollzug von Landesrecht ist im VwVfG des Bundes nicht geregelt. Denn der Bund kann aus kompetenziellen Gründen die Verwaltungstätigkeit der Länder nicht normieren, wenn die Länder eigenes Recht vollziehen. Wann für den Vollzug des Landesrechts das VwVfG des jeweiligen Bundeslandes gilt, regeln deshalb die Landesgesetzejeweils in den ersten Paragrafen.
b) Vollzug von Bundesrecht durch Landesbehörden (§ 1 Abs. 2, 3 VwVfG)
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Wir haben gesehen, dass für die Ausführung von Bundesgesetzen durch den Bund das VwVfG-Bund (s.o. Rn 103) und für die Ausführung von Landesgesetzen durch die Länder das jeweilige VwVfG-Land gilt (s.o. Rn 108). Für den dazwischen liegenden Bereich, also diejenigen Gegenstände, die in Art. 84 und 85 GG geregelt sind, sieht das VwVfG-Bund in § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 vor, dass das VwVfG-Bund gilt; die Anwendbarkeit dieses Rechts endet in einem Bundesland aber immer dann, wenn ein VwVfG-Land in Kraft tritt, s. § 1 Abs. 3 VwVfG-Bund. Alle Bundesländer haben ein VwVfG erlassen. Für die in den Art. 84 und 85 GG genannten Tätigkeiten gilt also das jeweilige VwVfG-Land.
Bild 1: Anwendungsbereiche des VwVfG-Bund und der VwVfGe-Land
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5. Die verschiedenen Typen von Landesverwaltungsverfahrensgesetzen
110
Es sind insgesamt drei Typen von LandesVwVfGen zu unterscheiden. Die meisten Bundesländer haben ein eigenes, vollständig ausformuliertes Landes-VwVfGerlassen. Dem Inhalt nach entsprechen sie jedoch zumindest weitestgehend dem VwVfG des Bundes.
111
Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt haben einen zweiten Typ von VwVfG erzeugt. Ihn charakterisiert, dass auf das Bundesgesetz verwiesenwird; eine eigenständige Regelung findet sich grundsätzlich nur für den Anwendungsbereich des Landesgesetzes. § 1 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren der Berliner Verwaltung erklärt, dass für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden Berlins das VwVfG vom 23.1.2003 (also das Bundesgesetz) in der jeweils geltenden Fassung entsprechend gilt, soweit nicht in den §§ 2–6 dieses Gesetzes (also des Berliner Gesetzes) etwas anderes bestimmt wird. § 2 VwVfGBln enthält dann Ausnahmen von seinem Anwendungsbereich, in den folgenden Normen finden sich Modifikationen des VwVfG des Bundes.
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Eine besondere Rolle nimmt das Land Schleswig-Holsteinein. Schleswig-Holstein hat bereits vor Inkraftreten des VwVfG des Bundes ein eigenes Landesverwaltungsgesetz erlassen, das über Regelungen zum Verwaltungsverfahren hinaus insbes. auch Bestimmungen zum Behördenaufbau enthält. In Mecklenburg-Vorpommernsowie in Sachsenenthalten die einschlägigen Gesetze über das Verwaltungsverfahren auch Bestimmungen zur Verwaltungszustellung und zur Verwaltungsvollstreckung (Mecklenburg-Vorpommern) bzw. zur Verwaltungszustellung (Sachsen). Zum eigentlichen Verwaltungsverfahren hat sich der Gesetzgeber in Mecklenburg-Vorpommern für eine Vollregelung entschieden, der sächsische Gesetzgeber für eine Verweisung.
6. Fortentwicklung des VwVfG
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Das VwVfG hat verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen[61]. Unabhängig von den Einzelheiten, die an dieser Stelle nicht erörtert werden sollen, lassen sich dabei mehrere Entwicklungslinien beobachten. Die erste betrifft das Verhältnis des VwVfG zu spezialgesetzlichen Verfahrensregelungen, das eine sehr wechselhafte Geschichte durchlebt hat. Möchte man hier der Rechtsvereinheitlichungswirkung des VwVfG als „Grundgesetz der Verwaltung“ Rechnung tragen, so sollten spezialgesetzliche Regelungen die begründete Ausnahme bilden[62]. Weitere Entwicklungslinien beziehen sich auf die zunehmende Europäisierung und Digitalisierung des Verwaltungsverfahrens(s.o. Rn 62). Den jüngsten Schritt in dieser Entwicklung bildet die Anerkennung eines vollautomatisierten Verwaltungsakts in § 35a VwVfG (ausf. Rn 412)[63]. Schließlich besteht nach wie vor im Recht des öffentlich-rechtlichen Vertrags Reformbedarf[64].
Ausbildungsliteratur:
v. Danwitz, Rechtsverordnungen, JURA 2002, 93; Ehlers, Der Anwendungsbereich der Verwaltungsverfahrensgesetze, JURA 2003, 30; Funke/Papp, Rechtsprobleme kommunaler Satzungen, JuS 2010, 398; Greim-Diroll, Blumige Aussichten, JURA 2018, 740 (Referendarexamensklausur); Krebs/Becker, Entstehung und Abänderbarkeit von Unionsrecht, JuS 2013, 97; Merten, Das System der Rechtsquellen, JURA 1981, 236; Lepsius, Normenhierarchie und Stufenbau der Rechtsordnung, JuS 2018, 950; ders., Gesetzesstruktur im Wandel, JuS 2019, 14 und 123; v. Olshausen, Die (Rechts-) Quellen des Verwaltungsrechts, JA 1983, 177; P. Reimer, Grundfragen der Verwaltungsvorschriften, JURA 2014, 678; Sauer, Die Grundfreiheiten des Unionsrechts, JuS 2017, 310; T. I. Schmidt, Der Stufenbau der Rechtsordnung, JURA 2020, 896; Voßkuhle/Kaufhold, Verwaltungsvorschriften, JuS 2016, 314; Voßkuhle/Wischmeyer, Die Rechtsverordnung, JuS 2015, 311.
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