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Davon zu unterscheiden ist die Verwerfungskompetenz. Zu Recht wird hier überwiegend angenommen, dass der Verwaltungsbeamte in einem solchen Fall das Verfahren aussetzenund seinen Vorgesetzten informieren muss. Teilt dieser die Bedenken, so muss über die jeweilige Exekutivspitze eine abstrakte Normenkontrollenach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG vor dem Bundesverfassungsgericht oder dem jeweiligen Landesverfassungsgericht beantragt werden[44]. Gegen eine Anwendungspflicht in solchen Fällen sprechen auch hier Sinn und Zweck des Art. 20 Abs. 3 GG. Und eine Verwerfungskompetenz ohne Einschaltung der Exekutivspitze stünde in einem Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Gewaltenteilung: Denn mit der Verabschiedung eines Gesetzes hat der unmittelbar demokratisch legitimierte Gesetzgeber zugleich zum Ausdruck gebracht, dass er das Gesetz auch für verfassungskonform hält. Deshalb muss die Verwerfung den Verfassungsgerichten vorbehalten bleiben.
2. Rechtsverordnungen und Satzungen
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Weitaus bedeutsamer als die zuvor genannte Konstellation ist in der Verwaltungspraxis der Fall, dass eine Rechtsverordnung oder Satzung gegen formelle Gesetze (oder gar Verfassungsrecht) verstoßen kann. Auch hier erfordern Sinn und Zweck des Art. 20 Abs. 3 GG zunächst eine Prüfungskompetenzbei begründetem Anlass. Einer sich anschließenden Verwerfungskompetenzstehen zwar weniger gewichtige Gründe als bei formellen Gesetzen gegenüber: Denn da Rechtsverordnungen und Satzungen ihrerseits von der Verwaltung erlassen werden, besteht zumindest kein Spannungsverhältnis zum Grundsatz der Gewaltenteilung. Allerdings werden sie typischerweise von anderen Stellen innerhalb der öffentlichen Verwaltung verantwortet. Der richtige Weg ist daher in solchen Fällen ebenfalls, das Verfahren zunächst auszusetzenund sodann beim Normgeber bzw. der Aufsichtsbehörde die „Aufhebung“ der Norm zu beantragen[45].
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Einfacher verhält es sich dann, wenn die Möglichkeit einer prinzipalen Normenkontrolle nach § 47 VwGObesteht. Dies ist gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO kraft Bundesrechts bei Satzungen und diesen gleichgestellten Rechtsverordnungen nach dem BauGB möglich. Zu den hiervon erfassten Rechtsnormen gehören insbes. Bebauungspläne (vgl. § 10 Abs. 1 BauGB). Darüber hinaus kann der Landesgesetzgeber gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO die Normenkontrolle auf andere Rechtsverordnungen und Satzungen ausweiten[46]. Einen danach statthaften Normenkontrollantrag kann nach dem Wortlaut des § 47 Abs. 2 VwGO „jede Behörde“ stellen. Anders als bei natürlichen und juristischen Personen bedarf es also nicht der Geltendmachung einer Rechtsverletzung. Allerdings wird die Bestimmung einschränkend ausgelegt: Erforderlich, aber ausreichend ist, dass die Behörde ein objektives Kontrollinteresse nachweisen kann. Dies erfordert zumindest regelmäßig, dass die Behörde die Rechtsvorschrift auszuführen hat[47].
3. Verstoß gegen Unionsrecht
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Besonderheiten ergeben sich, wenn ein (formelles oder materielles) Gesetz gegen Unionsrecht verstößt. Denn der Anwendungsvorrangdes (gültigen) Unionsrechts erstreckt sich gerade auch auf die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung. Zugleich gehört er zu den nach Art. 20 Abs. 3 GG von der Verwaltung zu beachtenden Regeln[48]. In solchen Konstellationen besteht daher die Kompetenz und zugleich auch die Pflicht, ein gegen Unionsrecht verstoßendes Gesetz nicht anzuwenden. Auch hier sollte (erst recht) eine Prüfung nur bei begründetem Anlass erfolgen.
IV. Das Verwaltungsverfahrensgesetz als bedeutsamste Rechtsquelle
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Fall 3:
Unternehmer U plant die Errichtung und den Betrieb einer genehmigungsbedürftigen Anlage nach § 4 BImSchG. Nachbar A möchte die Anlage verhindern. Er verlangt im Verwaltungsverfahren rechtliches Gehör nach § 28 und Akteneinsicht nach § 29. Mit Recht? Rn 107
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Die verschiedenen Rechtsquellen haben eine unterschiedliche Bedeutung im Studium, aber auch in der Praxis. Im Mittelpunkt auch des Allgemeinen Verwaltungsrechts stehen oftmals formelle Gesetze. Unter diesen nimmt wiederum das Verwaltungsverfahrensgesetz eine herausragende Rolle ein. Es ist daher zu Recht als „Grundgesetz der Verwaltung“bezeichnet worden[49].
1. Die Entstehung des Verwaltungsverfahrensgesetzes
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Bereits in der Weimarer Zeit kam der Wunsch nach einem VwVfG auf. Zu einer Kodifikation durch das Reich kam es jedoch nicht. Das Land Thüringen hatte im Jahre 1926 eine Landesverwaltungsordnung erlassen, die bereits wesentliche Teile des heute geltenden Rechts enthielt. Das Land Württemberg hatte 1931 einen Entwurf einer Verwaltungsrechtsordnung publiziert, die versuchte, das gesamte Allgemeine Verwaltungsrecht zu kodifizieren; dem Entwurf blieb zwar die Gesetzeskraft vorenthalten, er zeitigte in der Praxis aber große Bedeutung. Während der 50er-Jahre wandte sich die Diskussion verstärkt einem VwVfG zu. Der 43. Deutsche Juristentag forderte 1960 in München eine einheitliche Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts. Sein Beschluss beförderte gesetzliche Vorhaben. Wegen der verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenz des Bundes zum Erlass eines solchen Gesetzes (s. Art. 84 Abs. 1 und 85 Abs. 1 GG) einigte man sich auf die Erarbeitung eines Musterentwurfs; auf dessen Basis sollten Bund und Länder jeweils gleichlautende VwVfGe erlassen. 1963 und 1966 wurden solche Musterentwürfe publiziert. Sie bildeten die Basis einer ausführlichen wissenschaftlichen Diskussion. 1970 und 1973 gelangten Entwürfe eines VwVfG in die gesetzgebenden Körperschaften des Bundes. Die überarbeitete Fassung des Entwurfs von 1973 wurde schließlich Gesetz[50]. Das VwVfG des Bundes stammt vom 25.5.1976. Es trat am 1.1.1977 in Kraft. Es liegt nunmehr in der Bekanntmachung v. 23.1.2003[51] vor und wurde zuletzt durch Gesetz v. 4.5.2021 geändert[52].
2. Die Bedeutung des Verwaltungsverfahrensgesetzes
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Die zentrale Bedeutung des VwVfG-Bund liegt in der Rechtsvereinheitlichung. Das Gesetz ersetzt eine Vielzahl von an verschiedensten Stellen enthaltenen fragmentarischen Spezialvorschriften verwaltungsverfahrensrechtlicher Art. Eine weitere Bedeutung liegt in der Entlastung des Gesetzgebers: Er braucht jetzt nicht mehr verwaltungsverfahrensrechtliche Regeln zu erlassen; er kann im Gegenteil in Spezialnormen enthaltene verwaltungsverfahrensrechtliche Aussagen streichen und damit das allgemeine Recht zu Anwendung gelangen lassen. Ferner ist das VwVfG mit Blick auf die Vereinfachung und Rationalisierung der Verwaltung von Vorteil. Sie besitzt klare und handhabbare Normen für ihre Arbeit. Letztlich dient das VwVfG auch dem Bürger; seine Rechte im Verwaltungsverfahren sind positiv-rechtlich geregelt und gewährleistet.
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Für das Allgemeine Verwaltungsrecht liegt die Bedeutung des VwVfG darin, dass wesentliche zuvor ungeschrieben geltende allgemeine Grundsätze des Verwaltungsrechts positiv-rechtlich normiertsind. Ferner sind Unklarheiten betreffend die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts entfallen und Streitfragen entschieden worden. Das Gesetz bildet zugleich die Basis der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung für die Entwicklung und Konkretisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts.
3. Der Anwendungsbereich des Bundesgesetzes
a) Öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit (§ 1 Abs. 1, 2 VwVfG)
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Das VwVfG findet nur dann Anwendung, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden handelt. Verwaltungsverfahrensrecht gilt also nicht, wenn die Verwaltung sich für die Durchführung ihrer Arbeit der Form des Privatrechts, einschließlich des Verwaltungsprivatrechts, bedient. Damit sind einige Bereiche der heutigen Tätigkeit von Behörden der Regelungswirkung des VwVfG entzogen[53]. Allerdings können in besonderen in besonderen Konstellationen des Privatrechts einzelne Bestimmungen des VwVfG analoge Anwendung finden. Dies gilt etwa für verwaltungsprivatrechtliche Verträge[54]. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 gilt das VwVfG jedenfalls für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit von Bundesstellen(zu den Landesstellen s.u. Rn 108ff).
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