Oktober 2018
Der immer dichter wabernde Nebel über den gewaltigen Literaturpreisen dieses Herbstes hat sich endlich gelichtet, die Prämien werden rechtzeitig vor dem Fest bei den Dichtern eingehen, der Prix Goncourt mit sehr deutscher Thematik hat uns alle überrascht, und die Weihnachtsbäumchen leuchten allerorten. – Alles gut! Die arme Thea Dorn wird sich aus der liegenden Position langsam aufrichten, nachdem sie der jüngste Franzobel-Roman »Das Floß der Medusa« (bereits im August, vor dem ZDF-Quartett) »umgehauen« hatte. Gut, dass sie ihm jetzt auch noch als Jurymitglied den berühmten Bayerischen Buchpreis zusprechen konnte! Eben alles doch sehr familiär! München darf sich die Hände reiben, denn der Schweizer Buchpreis ging an den Neu-Münchner Jonas Lüscher mit sagenhaften 30.000 SFR, die der Autor sicher in unseren lokalen Wirtschaftskreislauf einspeisen wird! Da der Deutsche und der Österreichische Buchpreis mit der Familie Robert und Eva Menasse ebenfalls an benachbarte Alpenländler ging, wäre jetzt nur noch die Schweizer Fernseh-Literaturkritikerin Nicola Steiner (SRF und 3sat) aufzurichten, die hin und wieder von ihr rezensierte Bücher schlicht »zum Niederknien« findet. Da sie aber auch in der Jury des Schweizer Preises saß, wird ihr unser Jonas schon aufhelfen können.
Ja, es sind harte Zeiten für Rezensenten hoher Literatur, so kurz vor X-Mas, das ja schon längst zu einem XXXL-Mas geworden ist, an dem achtundzwanzig Millionen Weihnachtsbäume abgeholzt und von pestizidgeschwängerten, überdüngten Spezialplantagen in deutsche Wohnzimmer verfrachtet werden, um nach wenigen Wochen auf dem Müll zu landen – wo bleibt da eigentlich der günstige CO 2-Footprint? Aber egal, das Leben des Rezensenten war ja noch nie ein leichtes, so eingezwängt zwischen Verlagsriesen, die ihm durch Gitterstäbe nur Juryposten, Bestseller und karges Brot reichen. Klar, dass man da nicht jedes Werk zu Ende lesen kann – was übrigens der englische Autor Tim Parks (»Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen«) durchaus empfiehlt: Warum sollte man, wenn Struktur und Story eines Werks durchschaut sind, auch noch alles bis zur letzten Zeile lesen? Weg damit!
Zweifellos ein wichtiger Tipp für die Weihnachtslektüre – bevor sie einen noch umhaut!
Dezember 2017
Die Utting und Mick Jagger? Wer, bitte, ist Utting – soll das eine Tochter von Martin Walser sein. Uschi Obermeier oder H. M. Enzensberger, dessen Jüngste, Theresa, eben einen Roman vorgelegt hat? Ganz einfach: Wenn du vom Arbeitsamt kommst, Richtung Schlachthof fährst, der blutigsten Gegend Münchens, siehst du sie oben liegen, die Münchner Verrücktheit, die eigentlich von Fitzcarraldo Werner Herzog stammen müsste, den es aber bekanntlich nach L. A. abgetrieben hat: Ein alter Ammerseedampfer, der auf der Brücke vor Anker gegangen ist, unter der du durchfährst und danach backbord, Richtung Flaucher, kein Witz! Und mit diesem alten Schlachtschiff haben wir noch Großes vor.
Genau wie Mick und Keith, die vor einigen Wochen hier durchs Olympiastadion gewirbelt sind und nach diesem Konzert absolut zum Literaturnobelpreis anstehen, nachdem Bob Dylan 2016 das Eis für Lyrics gebrochen hat. Die entscheidende Frage ist, ob die britischen Boys als bayerische Autoren gelistet werden. Immerhin haben sie hier nach eigener Aussage (neunmaliger Auftritt! Allein in München!) ihren Haupt-Wirkungskreis. Das schwedische Komitee hat allerdings unklugerweise vor Kurzem eine Liste herausgegeben, wonach die Nationenzuordnung nach dem Geburtsort erfolgen soll – was ganz Österreich wegen seiner Alt-Habsburgischen Lande auf der Stelle völlig »narrisch« werden ließ. Die Bayern dagegen wiedermal leer ausgehen lässt, wenn nicht noch, mal sehen.
Es ist Oktober, und deshalb müssen wir ganz grundsätzlich über den Nobelpreis spekulieren, der kurz nach dem berühmten Deutschen Buchpreis am 10. Oktober verkündet wird. Und ganz klar, würden wir auf Jagger und Richards als heiße Kandidaten setzen, wenn sie nicht noch so verdammt jung wären! Auch hat Richards eine prächtige Autobiografie vorgelegt, in der er u. a. gesteht, dass das berühmte – sagen wir mal – Gedicht »Angie« keineswegs nun ja wem wohl gewidmet ist, sondern seinem eigenen Heroin-Entzug. Aber die arroganten Schweden haben auch schon Karl Valentin und Oskar M. Graf brüskiert, und weder Thomas Mann noch Paul Heyse können reinen Gewissens als echt bayerische Autoren gelten. Und da der bedauernswerte Hans Carossa fünf Mal nominiert aber nie gewählt worden ist, wird es höchste Zeit. Hier muss jetzt das Wort »Ministerpräsident« fallen und »Chefsache«. Wenn das nicht meistens ins Desaster führen würde. Wir hätten ja mindestens Friedrich Ani (jetzt auch mit Lyrik!) zu bieten und Rita Falk (jetzt auch als Film) sowie Gerhard Polt (jetzt auch im Internet!). Die zwingende Agenda: Den diplomatischen Druck auf Schweden sofort massiv erhöhen, und, jaja, so schließt sich der Kreis, wir haben’s von Anfang an geahnt: Die Utting, warum nicht, wieder flottmachen und vor Stockholm kreuzen lassen, drohend, Chefsache!
Oktober 2017
Verstohlen wischt sich manches Kind den Mund ab, mit dem Ärmel, wenn die Mutter es geküsst hat. Was aber, wenn es die Muse war und nicht die Mutter? Und wenn das Kind kein Kind, sondern ein Lyriker, eine Lyrikerin, ein Fabelwesen also, dünnhäutig, durch Spiegel in andere Welten tretend, trunken von Küssen – Wesen, die man um diese Jahreszeit vermehrt des Nachts an S-Bahnhöfen antrifft, in Hotellobbys und Abflughallen, mit zerrauftem Haar und tiefen schwarzen Ringen unter den Augen – »Panda-Augen«, wie die Werbung neuerdings höhnt. Das alles sind Verlierer, deren es viel mehr gibt als Gewinner, und denen hier unbedingt mal ein Röslein gebrochen werden soll – vor allem, wenn man ihnen gerade ein Veilchen geschlagen hat.
Ja, es ist wieder die Zeit der Literaturpreise und Lyrikfestivals, und so haben allein in den letzten vier Wochen etwa Christoph Meckel den Hölty-Preis für Lyrik (20.000 Euro), der Lyriker Adam Zagajewski den Leopold-Lucas-Preis (50.000 Euro) gewonnen, ganz zu schweigen von den Prosaisten wie J. Erpenbeck (Thomas-Mann-Preis, 25.000 Euro) Anselm Glück (Oskar-Pastior-Preis, 40.000 Euro) oder Han Kang, die mit dem Roman »Die Vegetarierin« den Booker-Preis abgeräumt hat (50.000 Pfund Sterling). Wir könnten fortfahren mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (10.000 Euro) oder dem Berliner Internationalen Literaturpreis (20.000 Euro) und wären längst nicht am Ende.
Ganz im Schatten dieser großen Formate hat sich seit 2010 der Lyrikpreis München (Näheres bitte googeln!) eingenistet, der wenig Preisgeld bietet (1.000 Euro für den Sieger), aber einem neugierigen, halbwegs diskussionsbereiten Publikum viele und meist sehr originelle Gedichte, und nach einem knallharten Wettbewerb einen Gewinner und viele, viele Verlierer, die dann in S-Bahnhöfen, Hotellobbys, Abflughallen abhängen, mit Panda-Augen s. o. Es ist schwer, bei einer Konkurrenz von etwa fünfhundert Einsendungen pro Jahr, drei Vorauswahl-Lesungen und schließlich einem Finale (12. November im Gasteig) als dünnhäutiges Lyrikwesen die Nerven zu behalten, zumal die Kriterien für gute Lyrik unklar sind, schon immer unklar waren. Böse Zungen meinen, aleatorisch. Tröstlich, dass die Preise aus dem Boden schießen! Ein Politiker, der auf sich hält, spendet einen Preis, und mancher (Preis) verglüht eben schon nach Kurzem wieder im Lyrik-All. Der Lyrikpreis München, der sich vom Münchner Literaturbüro gelöst hat und mit drei Vorauswahllesungen durch die Stadtteile zieht, verlangt, dass sich der Poet den bohrenden Fragen der Jury (ebenfalls Poeten) stellt, was Metrum Reim und Inhalt betrifft – und er dann das Urteil kassiert: »ungenügend«, wenn er Pech hat. Da hilft kein Klagen, schon gar nicht vor dem Amtsgericht, da heißt es »Mund abwischen« und weiterdichten, vielleicht auch wild nach irgendeinem Erdbeermund, egal, irgendwann wird es schon klappen!
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