Kierkegaard beschrieb in seinen Ausführungen mehrere Ebenen der Verzweiflung. Die niedrigste und allgemeinste habe ihren Ursprung in der Unwissenheit: Der Mensch habe eine falsche Vorstellung vom Wesen des »Selbst« und sei sich seiner Möglichkeiten noch nicht bewusst. Ob dieser Zustand angesichts seiner Banalität den Namen Verzweiflung überhaupt verdiene, ließ Kierkegaard offen. Echte und tiefe Verzweiflung entstand seiner Ansicht nach erst mit zunehmender Selbsterkenntnis. Wenn, so schrieb er, ein junges Mädchen aus Liebe verzweifle, so verzweifle sie in Wahrheit nicht über den Verlust des Geliebten, sondern über sich selbst. Dieses Selbst wird ihr nun »zur Plage« – sie will es loswerden und verzweifelt, weil ihr dies nicht gelingt.
Sich selbst loswerden
Was genau Kierkegaard damit meint, erklärt er am Beispiel eines Herrschsüchtigen, »dessen Losung heißt: ›entweder Cäsar oder nichts‹«. Er legt dar, dass hinter dem Streben dieses Mannes der Wunsch stehe, sich selbst aufzugeben oder »loszuwerden« – ein Ding der Unmöglichkeit. »Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er sich verzweifelt losgeworden; nun ward er aber nicht Cäsar und kann verzweifelt sich nicht loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt, denn er hat sein Selbst nicht, er ist nicht er selbst.«
Nach Kierkegaards Ansicht gibt es hierfür eine Lösung. Wenn der Mensch den Mut aufbringe, so zu sein, wie er wirklich ist, könne er Frieden und innere Harmonie finden, denn: »Das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung.« Wenn wir damit aufhörten, unser wahres Selbst zu leugnen, und unsere wahre Natur zu entdecken und zu akzeptieren versuchten, löse sich die Verzweiflung auf.
Da Kierkegaard die Verantwortlichkeit des Individuums für das eigene Leben so stark betonte, gilt er oft als Begründer der Existenzphilosophie. Die von R. D. Laing eingeführte existenzielle Therapie und die humanistische Therapie, die von klinischen Psychologen wie Carl Rogers praktiziert wurde, sind direkt von Kierkegaard beeinflusst. 
Søren Kierkegaard
Søren Kierkegaard wurde in Kopenhagen geboren und wuchs in materiell gesicherten Verhältnissen auf. Er wurde streng pietistisch erzogen. Als er anfing zu studieren, entschied er sich zunächst für die Theologie, dann wechselte er zu Philosophie. Nachdem er von seinem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt hatte, beschloss er, sein Leben ganz der Philosophie zu widmen. 1840 verlobte er sich mit Regine Olsen, löste aber die Verlobung ein Jahr später wieder auf, weil er glaubte, nicht für die Ehe zu taugen. Sein melancholisches Wesen prägte sein gesamtes Leben. Er war ein Einzelgänger, der gerne in den Straßen herumlief, sich mit Fremden unterhielt oder allein in der Gegend herumfuhr. Kierkegaard brach am 2. Oktober 1855 auf der Straße zusammen und starb am 11. November im Frederiks-Hospital in Kopenhagen.
Hauptwerke
1843 Furcht und Zittern
1843 Entweder – Oder
1844 Der Begriff Angst
1849 Die Krankheit zum Tode
PERSÖNLICHKEIT BESTEHT AUS ANLAGE UND ERZIEHUNG
FRANCIS GALTON (1822–1911)
IM KONTEXT
ANSATZ
Biologische Psychologie
FRÜHER
1690Der englische Philosoph John Locke postuliert, dass der Geist von Neugeborenen ein unbeschriebenes Blatt sei, alle werden also gleich geboren.
1859Der Naturforscher Charles Darwin behauptet, dass jede menschliche Entwicklung aus der Anpassung an die Umwelt resultiere.
1890William James äußert, dass alle Menschen genetisch vererbte individuelle Neigungen oder »Instinkte« haben.
SPÄTER
1925Der Behaviorist John B. Watson sagt, dass es so etwas wie die Vererbung von Fähigkeiten, Talenten, Temperament oder einer geistigen Verfassung nicht gebe.
1940Die Nationalsozialisten entwickeln ihre Rassenlehre auf Grundlage der Eugenik.
Francis Galton hatte eine illustre Verwandtschaft. Der Naturforscher Charles Darwin, der sich mit der Evolution beschäftigte, war sein Cousin. Daher überrascht es nicht, dass Galton sich für die Frage interessierte, ob menschliche Fähigkeiten angeboren sind oder erlernt werden. Er war der Erste, der »Anlage« und »Umwelt« als zwei getrennte Einflussgrößen betrachtete und behauptete, sie allein seien für die Ausprägung der Persönlichkeit verantwortlich. Um herauszufinden, welche Merkmale vererbt werden, nahm er den Stammbaum seiner eigenen Familie sowie die Stammbäume von Richtern, Staatsmännern, Feldherren, Wissenschaftlern, Literaten, Wahrsagern, Ruderern und Ringern unter die Lupe. Die Ergebnisse veröffentlichte er in seinem Buch Hereditary Genius (1869, Genie und Vererbung ). Wie vorauszusehen, war er in bestimmten Familien auf mehr hochbegabte Individuen gestoßen als im Bevölkerungsdurchschnitt. Dass für eine optimale Entwicklung der »Geisteskräfte« auch ein privilegiertes häusliches Umfeld von Vorteil ist, räumte Galton ein.
»… charakteristische Merkmale [haften] an Familien … «
Francis Galton
Eine notwendige Balance
Galton führte eine Reihe weiterer Studien durch. Unter anderem befragte er die Mitglieder der Royal Society per Fragebogen über ihre Interessen und Neigungen. Diese Ergebnisse finden sich in seinem Buch English Men of Science . Er kam zu dem Schluss, dass stets die Natur triumphiere, wenn die Erziehung im Widerspruch zu den Anlagen stehe. Die »tieferen Merkmale des individuellen Charakters« seien unauslöschlich. Allerdings könne auch ein großes natürliches Talent regelrecht ausgehungert werden, wenn die richtige Geistesnahrung fehle. Intelligenz sei zwar vererbt, müsse aber durch entsprechende Pädagogik gefördert werden.
1875 untersuchte Galton dann 159 Zwillingspaare. Er fand heraus, dass sie einander entweder extrem ähnlich oder extrem unähnlich waren, daran änderte sich auch nichts. Galton hatte angenommen, dass unähnliche Zwillinge, die in derselben Familie aufwuchsen, einander ähnlicher würden. Doch er musste feststellen, dass dies keineswegs so war. Die Erziehung schien überhaupt keine Rolle zu spielen.
Francis Galton prägte den Begriff »Eugenik«. Noch heute glauben manche, dass Menschen sich wie Pferde »züchten« ließen. Andere sind der Auffassung, der Geist eines Neugeborenen sei eine »Tabula rasa«, ein unbeschriebenes Blatt, und folgern daraus, dass wir alle gleich geboren werden. Die meisten modernen Psychologen erkennen indessen an, dass die individuelle Entwicklung sowohl von der Veranlagung als auch von Umwelteinflüssen abhängt und dass beide Faktoren auf komplexe Weise ineinandergreifen. 
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