1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Wilhelm Wundt
Unsere Sinne informieren uns überForm, Größe, Farbe, Geruch und Textur eines Gegenstands. Diese Details verdichten sich laut Wundt zu komplexen Vorstellungen, z. B. der eines Gesichts.
Wundt ging davon aus, dass die Sinneswahrnehmungen an sich den Ursprung jeden Bewusstseins bilden. Sie werden aber nicht als »reine« Daten erfasst, sondern schon vorbewusst zu Vorstellungen zusammengefügt, z. B. zu dem Bild einer toten Ratte. Wundt nannte diese Vorstellungen »Bilder eines Objekts oder eines Vorgangs in der äußeren Welt«. Wenn wir beispielsweise bestimmte Gesichtszüge wahrnehmen – also Mundform, Augenfarbe, Nasengröße und Ähnliches –, können wir anhand dieser Merkmale erkennen, ob uns eine Person bekannt ist.
Kategorien des Bewusstseins
Aus seinen Experimenten zu den Sinneswahrnehmungen leitete Wundt ab, dass das Bewusstsein sich aus drei Elementen zusammensetzt: aus Vorstellungen, Beweggründen und Gefühlen, die gemeinsam den Eindruck eines einheitlichen Ereignisflusses erzeugen.
Als Vorstellungen definierte Wundt zum einen Wahrnehmungen – geistige Repräsentanzen von Objekten der Außenwelt (z. B. eines sich in Sichtweite befindenden Baums). Zum anderen fasste er darunter Anschauungen, die eine subjektive Aktivität repräsentieren (z. B. die Erinnerung an einen Baum). Den Vorgang der Bewusstwerdung einer Wahrnehmung oder Anschauung nannte Wundt »Apperzeption«. Einen plötzlich auftretenden Lärm beispielsweise apperzipiert der Mensch als ein Warnsignal. Das kann z. B. bedeuten, dass ein Fußgänger erkennt, dass er von einem Auto erfasst werden könnte, wenn er nicht schnell genug aus dem Weg geht.
Die »Beweggründe« beziehen sich auf die Art und Weise, wie jemand in die äußere Welt eingreift. Sie sind Ausdruck unserer Willenskraft, ob es nun darum geht, dass wir einen Arm heben oder ein rotes Kleid tragen. Diese Form des Bewusstseins entzieht sich der experimentellen Kontrolle oder Messung.
Wundt fand heraus, dass sich aber das dritte Bewusstseinselement, das Gefühl, bewerten ließ, und zwar einerseits anhand der subjektiven Berichte von Probanden, andererseits durch die Messung von Spannungs-, Entspannungs- oder Erregungsintensitäten.
Die Völkerpsychologie
So wie Wundt es sah, wird die psychische Entwicklung eines Menschen aber nicht allein durch Sinneswahrnehmungen geprägt. Darüber hinaus wirken komplexe soziale und kulturelle Einflüsse auf den Einzelnen ein, die sich nicht experimentell erfassen lassen. Zu diesen Einflüssen zählte er Religion, Sprache, Mythen, Geschichte, Kunst, Gesetze und Bräuche. Sie stehen im Mittelpunkt seines zehnbändigen Werks Völkerpsychologie , an dem er während seiner letzten 20 Lebensjahre arbeitete.
Die Sprache hielt Wundt für ein besonders wichtiges Element der Bewusstseinsbildung: Für ihn beginnt jede verbale Kommunikation mit einem »allgemeinen Eindruck« oder einer Vorstellung dessen, was wir vermitteln wollen. Nachdem uns dies bewusst geworden ist, kleiden wir unsere Vorstellung in Worte. Während wir sprechen, prüfen wir, wie treffend wir das, was wir unserem Gegenüber sagen wollen, zum Ausdruck bringen. Vielleicht unterbrechen wir uns selbst: »Nein, das trifft es nicht ganz, ich meine …« Dann suchen wir nach einem anderen Wort oder einen anderen Satz, um uns besser verständlich zu machen. Unser Gesprächspartner muss verstehen, was wir ihm mitteilen möchten. Dabei können die Wörter durchaus eine untergeordnete Rolle spielen, vor allem wenn starke Gefühle im Spiel sind. Als Beweis für seine These führte Wundt an, dass wir uns oft gut an die grundlegende Bedeutung einer Aussage erinnern, auch wenn wir den genauen Wortlaut des Gesagten schon vergessen haben.
»Im Verlaufe der normalen Rede ist fortwährend die Hemmungsfunktion des Willens dahin gerichtet, Vorstellungsverlauf und Artikulationsbewegung miteinander in Einklang zu bringen. «
Wilhelm Wundt
Die Fähigkeit, in einer »echten« Sprache statt lediglich mit einem beschränkten Repertoire an Zeichen und Signalen zu kommunizieren, gilt vielen Psychologen heute als entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier.
Haben Tiere ein Bewusstsein?
Was Bewusstsein denn nun genau ausmacht, wird in der Wissenschaft immer wieder und immer noch diskutiert. Bis heute ist Wundts Definition jedoch nicht grundlegend geändert worden. Inwieweit Tiere über ein Bewusstsein verfügen, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Auch deshalb gibt es weiterhin Tierversuche, Massentierhaltung und blutige »Sportarten« wie die Fuchsjagd und den Stierkampf. Empfinden Tiere Unbehagen, Angst und Schmerz auf eine dem Menschen ähnliche Weise? Haben sie ein (Selbst-)Bewusstsein? Diese Fragen sind noch immer unbeantwortet. Doch nur wenige moderne Psychologen würden selbst Protozoen ein Bewusstsein zubilligen, wie Wundt es tat. 
Wilhelm Wundt
Wilhelm Wundt wurde in Neckarau (heute ein Stadtteil von Mannheim) geboren. Sein Vater war evangelischer Pastor. Als Kind hatte Wundt nur wenig Zeit zum Spielen. Mit 13 Jahren wurde er auf eine streng katholische Schule geschickt. Er studierte in Berlin, Tübingen und Heidelberg Medizin und promovierte 1856 über das Verhalten der Nerven.
Zwei Jahre später wurde er Assistent des Physiologen und Physikers Hermann von Helmholtz, den seine Forschungen zur visuellen Wahrnehmung berühmt gemacht hatten. In Heidelberg hielt Wundt die weltweit erste Lehrveranstaltung zu experimenteller Psychologie ab und eröffnete 1879 das erste psychologische Institut. Wundt publizierte mehr als 490 Bücher und Aufsätze und war seinerzeit wahrscheinlich der produktivste Wissenschaftsautor der Welt.
Hauptwerke
1863 Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele
1874 Grundzüge der physiologischen Psychologie
1896 Grundriss der Psychologie
SOLANGE UNS NIEMAND AUFFORDERT, BEWUSSTSEIN ZU DEFINIEREN, WISSEN WIR, WAS DAMIT GEMEINT IST
WILLIAM JAMES (1842–1910)
IM KONTEXT
ANSATZ
Bewusstseinsanalyse
FRÜHER
1641René Descartes definiert das Selbstbewusstsein als Denkvermögen.
1690Der englische Philosoph und Physiker John Locke definiert Bewusstsein als Wahrnehmung dessen, was einem durch den Kopf geht.
1781Der deutsche Philosoph Immanuel Kant behauptet, dass das Bewusstsein die Einheit des Mannigfaltigen stiftet.
SPÄTER
1923Max Wertheimer zeigt in seinen Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt , dass die Psyche Bilder aktiv interpretiert.
1925John B. Watson erklärt, dass das Bewusstsein kein geeignetes Konzept für die Psychologie sei.
Als Bewusstsein bezeichnen wir normalerweise das Gewahrsein unserer Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Erinnerungen. Diesen Zustand halten wir in der Regel für selbstverständlich, es sei denn, wir können uns nicht mehr konzentrieren, z. B. weil wir übermüdet sind. Doch wer das Bewusstsein näher in Augenschein nimmt, dem wird klar, dass sich die Inhalte stets verändern. Beim Lesen dieses Buchs gehen Ihnen vielleicht Erinnerungen oder Zukunftspläne durch den Kopf, die Sie ablenken. Unsere Gedanken scheinen sich allerdings nicht nur zu wandeln, sondern auch zu vereinigen oder zu vermengen und sich dann kettenartig weiterzuentwickeln.
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