Dexter stand noch ein paar Sekunden über dem Prinzen und musterte dessen verschwitztes Gesicht. Er strich Calvin eine Haarsträhne aus dem Antlitz. »Da haben wir uns wohl beide was eingebrockt«, flüsterte er.
Dexter wandte sich ab und machte Anstalten, den Raum zu verlassen. Vorher aber senkte er die Zimmertemperatur um mehrere Grad auf ein erträgliches Maß.
Die Streitereien vor der Tür hatten inzwischen aufgehört. Sowohl Marines als auch Connors betrachteten Dexter erwartungsvoll, als dieser auf den Korridor zurückkehrte.
Connors trat ihm in den Weg. »Und? Wie geht es dem Prinzen? Kann ich ihn sehen?«
Dexter sah auf. »Seine ganze Familie wurde umgebracht und er selbst ist ein heimatloser Flüchtling. Was glauben Sie, wie es ihm geht?«
Der Geheimdienstchef runzelte die Stirn, wich aber vor der Intensität in Dexters Stimme einen Schritt zurück. Dexter nutzte die kurze Pause, um sich dem Corporal der Wacheinheit zuzuwenden. »Sorensons Anweisung bleibt bestehen. Niemand ohne ausdrückliche Erlaubnis wird zum Prinzen vorgelassen.«
Der Corporal nickte ernst und Dexter setzte sich in Bewegung. Er spürte, wie sich der Blick Connors’ in seinen Rücken bohrte. Es kümmerte ihn wenig. Sollte sich der Kerl ruhig ein wenig aufregen. Hier hatte der Chef des RIS gerade so viel Macht, wie Sorenson ihm zugestand. Und Dexter hatte das Ohr des Anführers der Skulls . Das gab ihm ein wenig Spielraum, sogar für ein paar Frechheiten. Darüber hinaus stand ihm nicht länger der Sinn nach Spielchen. Man hatte ihn zu oft als Schachfigur benutzt. Es wurde Zeit, eine eigene Partie zu starten.
Als er um die nächste Ecke und außer Sicht trat, aktivierte er seinen Komlink und gab die Frequenz Sorensons ein. »Oscar?«
»Ich höre. Hast du den Prinzen gesprochen?«
»Allerdings. Er ist in schlechtem Zustand, aber nach allem, was er durchgemacht hat, ist das auch kein Wunder. Er wird sich fangen.«
»Hat er eine Meinung zu unserem nächsten Ziel?«
Dexter lächelte schief. »Er will nach Selmondayek«, log er. »Der Prinz muss dort sein, wo sich seine Truppen sammeln.«
Von der anderen Seite war ein ergebener Seufzer zu hören. »Ich hoffe, er weiß, was er tut. Dann also auf nach Selmondayek. Und in die Höhle des Löwen.«
3 
Rodney MacTavish und die geschrumpfte Zahl seiner Widerstandskämpfer bewegten sich so unauffällig wie möglich durch das nächtliche Wien. Beständig gejagt, bemühten sie sich, den Behörden der Solaren Republik immer einen Schritt voraus zu bleiben. Nirgendwo innerhalb der bewohnten Welten gab es dermaßen viele Kameras und Überwachungsanlagen wie auf der Erde. Sich inkognito von einem Fleck zum anderen zu bewegen, stellte daher eine enorme Herausforderung dar.
Die U-Bahn kam zum Halten und machte im Vergleich zu vergangenen Zeiten aufgrund der Anti-G-Schienen keinerlei Geräusch. Die Türen öffneten sich und die Gruppe strömte als Teil einer Welle von Pendlern in den Wagon.
Die einzige Möglichkeit, halbwegs unentdeckt zu reisen, bestand darin, in einer Masse von Menschen unterzugehen. MacTavish quetschte sich in einen Vierersitz. Natascha, Sean und Catherine folgten. Kilgannon blieb stehen und beobachtete die Umgebung misstrauisch. Gleichzeitig schirmte er die Mitverschwörer mit seinem bulligen Körper vor den Blicken der anderen Fahrgäste ab.
MacTavish, Cat und Kilgannon hatten Mützen auf und die Kapuzen ihrer Jacken tief ins Gesicht gezogen. Darüber hinaus sahen sie kaum auf. Es bestand ständig die Gefahr, in den Fokus einer Kamera zu geraten.
Im Fall von Natascha und Sean war das bislang unnötig. Die Sicherheitsbehörden hatten die beiden letzten Überlebenden des Studentenwiderstands immer noch nicht identifiziert, was denen ein wenig mehr Spielraum verschaffte. Die aus dem ehemaligen RIS-Agenten, dem in Ungnade gefallenen Pionier und der Reporterin bestehenden Führungsriege wurde allerdings steckbrieflich gesucht.
Oberhalb ihrer Sitzgelegenheit befand sich ein Holo-TV, über das mal wieder eine Rede Pendergasts abgespult wurde. MacTavish schüttelte langsam den Kopf. »Wie ich sehe, läuft die Propaganda auf Hochtouren.«
Catherine Shaw folgte seinem Blick und rümpfte die Nase. »Eine alte, nichtsdestotrotz wirkungsvolle Taktik. Man berieselt die Menschen vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche mit dem Gesicht dieses Mistkerls. Dadurch sickert die Propaganda in den Verstand der Menschen, ohne dass die meisten überhaupt etwas davon mitbekommen.«
Kilgannon nickte. »Irgendwo läuft immer eine Rede von Pendergast. Und wenn gerade keine aktuelle zu haben ist, werden die vergangenen einfach wiederholt. Die Bürger werden quasi programmiert, als wären sie nichts anderes als biologische Roboter. Ich könnte schwören, dass viele von denen«, er deutete mit einem Kopfnicken auf die Menschen ringsum, »bereits jetzt der Meinung sind, dass die Invasion des Königreichs nicht nur eine Friedensmission, sondern darüber hinaus absolut notwendig ist.« Kilgannons Blick glitt in MacTavishs Richtung. »Wir brauchen dringend einen Plan, Kumpel.«
»Jeder Verbündete hat uns verlassen oder ist tot«, hielt Natascha dagegen und schielte zur Seite, um sicherzugehen, dass niemand ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkte, als zu Pendlerzeiten angebracht wäre. Sean sah betreten aus dem Fenster, obwohl dort kaum mehr als Schwärze zu sehen war, als der Zug mit atemberaubendem Tempo durch den Tunnel raste.
MacTavish konnte den jungen Mann gut verstehen. Viele der Studenten, die sich ihnen in dem Glauben angeschlossen hatten, es handele sich um ein großartiges Abenteuer, waren jetzt tot oder saßen im Gefängnis. Der überwiegende Rest hatte sich von ihnen abgewandt und war zu ihren Familien zurückgekehrt. Der Studentenwiderstand bestand derzeit lediglich aus Natascha und Sean. Ein kläglicher Rest von etwas, das durchaus Großes hätte bewerkstelligen können. Anscheinend verflog die Abenteuerlust recht schnell, sobald einem Kugeln um die Ohren flogen.
Die Leuchtdioden des klobigen Geräts an MacTavishs Handgelenk begannen unvermittelt im Rhythmus von Ozzys Worten zu blinken. »Vorsicht!«, wisperte die KI. »Wir sind nicht allein.«
MacTavish sah sich verstohlen um. Der Zug hatte gerade angehalten, doch dieses Mal blieben die zahlreichen Pendler zurück und machten bereitwillig einem Trupp bullig wirkender Männer Platz.
Es handelte sich aber nicht um Polizisten, wie MacTavish erwartet hatte, sondern um Ordnungskräfte der neu eingesetzten Behörde für Zusammenhalt und Loyalität. Offiziell war sie dafür zuständig, die Menschen an die Regierung zu binden, quasi auf Linie zu bringen. MacTavishs Auffassung nach handelte es sich aber lediglich um staatlich sanktionierte Schlägertrupps. Sie gingen äußerst brutal gegen Abweichler vor. Viele von denen, die sie verhafteten, verschwanden auf Nimmerwiedersehen.
Die Gruppe wechselte unbehagliche Blicke. Jeder von ihnen trug eine verdeckte Schusswaffe. MacTavish tastete nach dem Griff der halbautomatischen Neunmillimeter und bemerkte dieselbe Bewegung bei seinen Begleitern. Hatte man sie entdeckt? Waren sie auf dem Weg hierher unvorsichtig gewesen? Die Möglichkeit ließ sich nicht von der Hand weisen. Die Fahndungsaufrufe in den Nachrichten waren allgegenwärtig. Sein eigenes und Kilgannons Gesicht gehörten zu den Top fünf der meistgesuchten Verbrecher der Republik. Cats Konterfei rangierte nur knapp dahinter.
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