Aber ein pragmatischer Zugang muss sich mit einem kritischen Zugang im Hinblick auf die Wirklichkeit verbinden. Und zwar vor allem deswegen, weil eine zu enge Auffassung des Pragmatismus im Kern nur aus unserer Wunscherfüllung besteht (vgl. den terminologischen Unterschieden vor allem: Brandom 2000). Eine umfassendere Perspektive, zu der vor allem Heidegger, Quine und Rorty im 20. Jahrhundert beigetragen haben, stellt den Vorrang des Praktischen selbst ins Zentrum seiner Überlegungen. Und dieser Zugang muss m. E. mit einer Kritikperspektive verbunden werden. Und die fragt nicht affirmativ danach, wie vorgegebene Dinge – es kann auch ein Expertenstandard sein – nun einfach in die Praxis umgesetzt werden können; Kritik geht darüber hinaus (vgl. umfassend Jaeggi & Wesche 2009). Denn entweder in oder außerhalb der bestehenden Verhältnisse muss sich ein Maßstab entwickeln, von dem aus eine gegebene Situation als falsch, mangelhaft, jedenfalls verbesserungsfähig charakterisiert wird. Letztlich ist es das gute Leben, was als Orientierung und Referenzkriterium dienen mag. Im Hinblick auf die Pflege gilt das genauso, denn am Ende geht es darum, den Betroffenen zu einem eigenständigen, autonomen und gelungenen Leben zu verhelfen. Aufgabe der Kritik (auch in der Pflege) ist es dann, aufmerksam zu sein für jene Mechanismen und Pathologien, welche die Betroffenen gerade daran hindern diesem Anspruch gerecht zu werden – auch wenn sie es selbst nicht wissen!
Und hier eine entsprechende Moderation und Qualifizierung zu übernehmen, das ist m. E. die Aufgabe der sog. »change agents«, oben bereits als Facilitators bezeichnet. Das ist vor allem in Großbritannien thematisiert worden, im sog. »Promotion Action on Research Implementation in Health Services/PARIHS)-Modell« Rycroft-Malone 2013, Sanders et al. 2013, Titchen et al. 2013). Dieses Modell geht davon aus, dass für einen erfolgreichen Transfer drei Dinge notwendig sind: Erstens muss eine empirische Basis vorhanden sein bzw. erst geschaffen werden (z. B. zum Schmerzmanagement). Zweitens muss ein Kontext vorhanden sein, der die Umsetzung neuer wissenschaftlicher Befunde unterstützt. Und drittens setzt eine erfolgreiche (und nachhaltige) Implementierung voraus, dass geeignete Facilitators engagiert bei der Sache sind. Und diese Personen sind fachlich qualifiziert, verfügen in der Regel über eine akademische Ausbildung und haben ein gewisses »standing« in der Organisation – das kann z. B. ein Krankenhaus oder ein Pflegeheim – sein. Es geht am Ende um einen »reflective pracititioner« (Schön 2013).
1.5 Abschluss: Fairer Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis
Nun, wohin haben uns diese Überlegungen geführt? Klar ist, dass in der Pflege intensiv (auch unter Einbezug der Pflegetheoriedebatte) über das Verhältnis von Theorie und Praxis reflektiert werden muss. Meiner Überzeugung nach ist uns dies – nach 30 Jahren Professionalisierung, Akademisierung und Forschung in der Pflege in Deutschland – erst ansatzweise gelungen. Denn die in den späten 1970er Jahren von Donaldson & Crowley (1978) apostrophierte Dreiteilung einer professionellen Disziplin (und das ist die Pflege) haben wir immer noch nicht richtig berücksichtigt. Es geht um Forschung (in unserem Text auch in Verbindung gesetzt mit Theorie/Wissenschaft), klinische Praxis (mit den Verantwortlichen vor Ort) sowie um (Aus)-bildungs- und Professionalisierungsprozesse. Diese drei müssen in einen »fairen Dialog« (Rawls) miteinander gebracht werden, sie dürfen nicht auseinanderdividiert werden. Es ist wichtig, dass wir in Deutschland die bereits existierenden Formen des Austausches, z. B. über die Fachgesellschaften, die Berufsverbände und die Pflegekammern, intensivieren. Jede Institution hat ihre eigene Berechtigung, aber um das Verhältnis von Theorie und Praxis im Sinne einer guten Pflege voranzubringen, brauchen wir viel stärkere und öffentlichkeitswirksamere Foren des Dialogs, des Streits, der Kritik. Und hier sollten wir auch von anderen Disziplinen lernen, nicht nur von der Medizin. Ich denke hier vor allem an die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Wir haben in unserem Land in den letzten Jahrzehnten – nicht zuletzt auch durch die Pflegestudiengänge – erhebliche Fortschritte erzielt. Wir dürfen in diesem Kampf nicht nachlassen.
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