Umgekehrt gab es aber immer wieder Stimmen, welche die Verbindung von Theorie und Praxis stark gemacht haben. Am bekanntesten ist Fawcett, die auf den Einfluss von konzeptionellen Modellen auf das Setting, den Pflegeprozess, Pflegefachsprachen sowie Patientenklassifikationssysteme und Qualitätsprogramm verwiesen hat (Fawcett 1992) und immer weder die Relevanz von theoretischen Überlegungen für eine evidenzbasierte Pflegepraxis betont hat (Fawcett et al. 2001). Ebenfalls hat sich diese Autorin – vor allem an die bahnbrechenden Arbeiten von Silva in den 1980er Jahren zur Testung von Pflegetheorien – mit diesem Problem beschäftigt und eine entsprechende Kriterienliste vorgelegt (Fawcett 2005). Andere Autor/-innen gehen noch einen Schritt weiter und postulieren, dass »theory is born in practice, is refined in practice, and must and can return to practice« (Dieckhoff et al. 1968a, S. 415). Voraussetzung dafür ist aber eine Offenheit für empirisch relevante Inhalte; die Zusammenarbeit von Theoriebildung und erfahrener Pflegexpertise vor Ort ist in diesem Ansatz zwingend.
Beide Positionen – sowohl die Trennungs- wie auch die Verbindungsprotagonisten – sind nur oberflächlich gesehen grundlegend verschieden und befürworten letzten Endes eine Anwendung bzw. einen Transfer von theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Praxis (alles andere würde ja auch in einer Praxiswissenschaft keinen Sinn machen). Und wie das geschieht, ist ebenfalls Teil einer Forschungsagenda, die in Deutschland als »Implementierungswissenschaft (IW) für Gerontologie und Pflege« (Hoben et al. 2016; vgl. auch McCormack et al. 2013) bekannt geworden ist. Hier geht es um Einflussfaktoren, konkrete Modelle und bereits vorliegende Erfahrungen zur praktischen Umsetzung von klinischen Innovationen in der Pflegepraxis (Beispiele: Schmerzmanagement, Mobilitätsförderung, Medikamentenregime etc.). Bezogen auf die deutsche Situation ist der Verweis auf die »Expertenstandards in der Pflege« angebracht, von denen mittlerweile eine zweistellige Zahl vorliegt. Man muss allerdings nüchtern feststellen, dass der Forschungsstand einer Implementierungswissenschaft nahezu ausschließlich international geprägt ist. In Deutschland kann man die entsprechenden Arbeiten an einer Hand abzählen. Hier ist es jedenfalls bis jetzt nicht gelungen, auch nur ansatzweise einen eigenen Forschungsfundus zur Umsetzung von wissenschaftlichen Befunden in die Pflegepraxis zu etablieren.
Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nicht diskutiert werden, vielmehr möchte ich mich der zweiten Frage zuwenden, die da lautet: Wie stellt sich das Verhältnis von Theorie in der Logik der jeweiligen Systeme dar?
1.3 Wissenschaft und Praxis – empirisch beobachtbare Systemlogiken
Wer in der Wissenschaft arbeitet (und dort Karriere machen möchte), der muss sich an die Regeln halten. Die bedeuten, dass Drittmittel eingeworben werden müssen, Publikationen (in ausländischen Journals) erwartet werden, die Zumutungen und Anstrengungen innerhalb des wissenschaftlichen »Zirkus« ausgehalten werden (müssen). Und dabei gilt es folgendes zu beachten, so der langjährige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft: »Wissenschaftliches Wissen ist revisionsoffen auf falsifikatorische Selbstüberholung hin angelegt. Forschung erzeugt vorbehaltliche Erkenntnis. Und die darf nicht mit jener Form des Weisheitswissens verwechselt werden, welche zwischen Erkenntnis und Normativität, zwischen Wissen und Werten, zwischen Epistemischem und Axiologischem nicht zu unterscheiden weiß« (Strohschneider 2020, S. 152). Nun, nicht nur in der Pflegewelt werden von Theoretikern und Wissenschaftlern klare Antworten, Handlungsstrategien und Umsetzungsschritte erwartet – dies können sie aber häufig nicht leisten, dürfen oder wollen das auch nicht. Institutionelle Zwänge, Arbeitsprioritäten und fehlende Kenntnis und Sensibilität für die Komplexität von Transferprozessen hindern sie daran. Warum? Weil das Wissenschaftssystem nach anderen Logiken funktioniert als die Praxis. Hier geht es um Reflexion und Erkenntnis, dort um Machbarkeit und Umsetzung. Zugegeben, das mag etwas grobschlächtig formuliert sein, denn es gibt natürlich Wissenschaft, deren Reflexionsniveau begrenzt ist und Praxis, welche die Grenzen ihrer Machbarkeit systematisch problematisiert. Aber eins ist klar: Durch Appelle und Engagements allein sind diese beiden Welten nicht einfach miteinander in Verbindung zu bringen.
Es bedarf eines Zwischenschritts, d. h. eines Facilitators. Das hat man in der britischen Diskussion durch Forschung generiert und immer wieder betont. Konsequenz: Wir brauchen sog. »Transferagenten« (vgl. z. B. Harvey et al. 2002; Rycroft-Malone 2007). Aber bevor ich dazu komme, soll noch auf die Logik der Praxis verwiesen werden.
Um die zu verstehen, sollten wir die uns vorliegenden Erkenntnisse zum Arbeitsalltag in der Pflege zur Kenntnis nehmen – jenseits der idealistischen Verkürzungen. Der »Studies of work«-Ansatz wäre hier in Anschlag zu bringen (Bergmann 2005), praxeologische Ansätze sind weiterführend (für einen Überblick siehe: Jonas 2020; weiterführend: Mol 2008, Mol et al. 2010). Diese Zugänge fragen danach, wie die Arbeitswirklichkeit in der Pflege konstituiert wird, nach welchen Imperativen sie funktioniert, durch welche habituellen Konfigurationen sie geprägt wird, welche Emotionsarbeit dort geleistet wird (vgl. insgesamt hierzu: Dunkel 1994, Böhle & Glaser 2006). Erst dann wird einsichtig, dass die Praxis in der Regel gegenüber der wissenschaftlichen Arbeit ein instrumentelles Verhältnis aufweist. Es geht darum, bestimmte Erkenntnisse für die Bewältigung und das Funktionieren der Routinen vor Ort nutzbar zu machen. Daher auch der Hinweis auf »praxisrelevante Befunde« – was auch immer dies sein mag.
Das vorläufige Resümee lautet also: Beide Systeme – Wissenschaft und Praxis – arbeiten mit naiven Reduktionismen. Während die eine Seite häufig ein Transfermodell in den Vordergrund rückt, das davon ausgeht, dass die bloße Information allein einen Unterschied macht, so dominiert auf der anderen Seite häufig ein instrumentalistischer Ansatz, der ausgewählte Befunde im Sinne der Machbarkeit vor Ort nutzen möchte.
1.4 Pragmatik und Kritik – ein Ausweg?
Wir haben festgestellt, dass die Verbindung von Theorie und Praxis nicht einfach so geschieht, auch nicht bloß eingefordert oder autoritär erzwungen werden kann. Man muss schon bereit sein, sich mit der Komplexität dieses Verhältnisses ernsthaft auseinanderzusetzen. Der Pragmatismus könnte eine Perspektive darstellen, denn – so hat es bereits Charles Peirce betont – unsere Überzeugungen, Denkschema und Glaubenssysteme sind letztlich Orientierungen für die Praxis, die wir im Alltag leben. Und nichts anderes geschieht auch mit den Pflegetheorien oder Modellen. Wenn sie in ihrer Bedeutung für die Praxis erkannt werden, wir uns mit ihnen auseinandersetzen, sie für unseren Alltag eine Orientierung bieten, dann können sie »praktisch« wirksam werden. Es geht also nicht um ein Eigenleben der Theoriewelt, ein pragmatischer Zugang rückt ihre Konsequenzen für die Praxis in den Vordergrund – ohne Dogmatik! Auch William James betonte vor über 100 Jahren, dass letztlich alle Theorien Approximationen, d. h. Annäherungen sind: »They are only a man-made (sic) language, a conceptual shorthand« (James 1907, S. 147). Dabei ist Wahrheit etwas, was geschieht. Das bedeutet, dass man sich die Umsetzung von Theorien, Ideen und Konzepte als einen Prozess vorstellen muss, in dem ihre Wahrheit letztlich durch bestimmte Ereignisse, und Vorkommnisse erst wirklich wird. Es geht dabei nicht darum um die »reine Lehre« zu streiten, sondern am Ende zu schauen (und zu reflektieren), was vor Ort sinnvoll ist, machbar ist, erreichbar ist. Zwei amerikanische Pflegetheoretikerinnen formulieren dies wie folgt: »As James contends, however, theories and ideas become true (are meaningful) just in so far as they help us to get into satisfactory relation with our experiences and result in more responsive action« (Doane & Varcoe 2005, S. 82). Noch ein Punkt ist sehr wichtig, der oben bereits angedeutet wurde: Entscheidend ist der Prozess, weniger die Suche nach einer bestimmten Doktrin (oder Wahrheit), der nun alle folgen müssen; auch steht der Vergleich der verschiedenen theoretischen Zugänge nicht im Vordergrund. Theoretische Überlegungen sind also nichts anderes als Programme, deren Nutzen und Nützlichkeit ständig auf dem Prüfstein stehen: »Theories thus become instruments, not answers to enigmas, in which we can rest. We don’t lie back upon them, we move forward, and, on occasion, make nature over again by their aid. Pragmatism unstifles all our theories, limbers them up and sets each one at work« (James 1907, S. 145).
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