Dabei stehen folgende Kernstrategien im Vordergrund: aufmerksam sein, in Kontakt gehen, in Beziehung gehen/sein/bleiben, ohne Gegenleistung handeln, nähren/versorgen, Verantwortung übernehmen, Sicherheit herstellen, Angst reduzieren, Hoffnung stärken, Lösungen entwickeln, präventiv denken, vorwegnehmend handeln, (Teil-)Führung übernehmen, anwaltschaftliche Vertretung (Müller, 2018, S. 92). Diese »Handlungsstrategien sind charakteristisch und ein Alleinstellungsmerkmal für den Pflegeberuf« (Müller, 2018, S. 96).
Pflege ist in verschiedener Hinsicht existenzrelevant. Denn zunächst zielt Pflege mit ihren Stärken und ihrer Haltung auf die eigene Existenz der Pflegenden selbst und erst danach auf die Existenz der Pflegebedürftigen ab. Erst über die eigene Existenzerhaltung der Pflegenden wird die Existenzerhaltung anderer Menschen ermöglicht. Insofern wird dem Punkt »ohne Gegenleistung handeln« (Müller, 2018, S. 92) als Kernstrategie hier entschieden widersprochen. Selbstlosigkeit im Sinne eines jahrzehntelangen falsch interpretierten und zu Unrecht proklamierten unterwürfigen Dienens (s. Kap. 2.1) führt zur Selbstaufgabe und ist deshalb für jede Pflegekraft ungesund und nicht erstrebenswert. Jeder Pflegekraft steht sehr wohl eine angemessene Gegenleistung für ihre professionelle Arbeit zu. Sie wird zu Recht erwartet!
Jede/-r einzelne an Corona Erkrankte, aber auch jede/-r andere Pflegebedürftige hat spätestens in dieser krisenhaften Zeit die außerordentliche Bedeutung der Pflege kennen und schätzen gelernt. Denn nur die Pflege ist in ständigem Kontakt mit den Infizierten und allen anderen Pflegebedürftigen, trotz der erhöhten Infektionsgefahr, trotz der deutlich erschwerten Arbeitsbedingungen mit ständigem Mundschutz und spezieller Schutzkleidung, trotz der zahlreichen Todesfälle und trotz der Sorgen um die eigene Gesundheit und um die Gesundheit der eigenen Familie.
Für alle diejenigen, die pflegebedürftig sind, bedeutet Pflege neben Versorgung, Hilfe und Linderung bei Schmerz und Leid vor allem auch Zuwendung, Ansprache, gemeinsame Zeit miteinander verbringen, sozialen Kontakt halten, auch wenn sonst keine Kontakte mehr aufrechterhalten werden können, und trägt damit zur Existenzerhaltung bei.
Kontakt und Zuwendung ist für jeden Menschen schlechthin existentiell notwendig. Denn der Mensch ist ein ζῴον πολιτικόν (zoon politikon), ein Gemeinschaftswesen, das den Kontakt mit anderen Menschen unbedingt benötigt, weil es sonst vereinsamt, darüber krank wird und sogar daran sterben kann. »Der Mensch als ein soziales Wesen lebt […] in Gemeinschaft mit anderen und steht mit diesen in Beziehung und Abhängigkeit« (Müller, 2018, S. 83).
Deshalb sind kranke, behinderte und alte alleinstehende Menschen von der Coronapandemie besonders schlimm betroffen. Sie sind von sozialer Isolation bedroht, weil ihnen menschlicher Kontakt fehlt und im Extremfall überhaupt nur durch Pflegepersonen aufrecht gehalten und gewährleistet werden kann.
Für viele Pflegebedürftige bedeutet Pflege in so einer Krisensituation Hoffnung. Nur die Hoffnung macht für viele Menschen das Aushalten der Krise erträglich oder hält sie gegenwärtig sogar am Leben. Viele Menschen hoffen, dass Pflege die Krise überbrückt, bis in (hoffentlich naher) Zukunft wieder ihr gewohntes Alltagsleben möglich wird. Die Hoffnung wird durch die »tragfähige, vertrauensvolle Pflegebeziehung« geschaffen, wo Pflegebedürftige darin unterstützt werden, »eine Perspektive für sich in der aktuellen Situation zu entwickeln« und die Erwartung »auf einen positiven Fortgang« (Müller, 2018, S. 95 f.) zu hegen.
3.2 Die Bedeutung von Pflege und Gesundheit während einer Pandemie
Gerade in solch einer Pandemie sind Pflegekräfte besonders gefragt und stellen erwartungsgemäß ihre Stärken zur Verfügung. Diese Erwartung wird von der Politik, von den einzelnen Institutionen und Arbeitgebern, von den Krankenkassen sowie von den Pflegebedürftigen und von ihren Angehörigen an die Pflegekräfte gerichtet. In der Pandemie gehen Pflegekräfte wegen zahlenmäßiger Unterbesetzung oft über ihre Grenzen hinaus. Wegen des Personalmangels wird unter den konkurrierenden Unternehmen um Wiedereinsteiger in den Pflegeberuf regelrecht gebuhlt. Sogar mit Prämien werden Pflegekräfte angeworben. Auch Pflegekräfte, die bereits in Rente oder aus anderen Gründen aus dem Beruf ausgeschieden sind, werden rekrutiert und mit unterschiedlichen Aufgaben in verschiedenen Pflegebereichen eingesetzt, zumindest als Hilfspersonal. Hier setzt die Allgemeinheit wieder auf die besondere Persönlichkeit, auf das Gemeinwohlverständnis und auf die starke Haltung der Pflegekräfte.
Gerade in dieser Pandemie kommen die Stärken des Pflegeberufs besonders zum Tragen. Die Profession Pflege agiert aufgrund ihrer Stärken mit analytischer, koordinierender, kommunikativer, edukativer, diagnostischer und evaluativer Kompetenz (Abt-Zegelin, 2002; Stemmer, 2003; Kruse, 2003; alle zit. n. Michaelis, 2005, S. 272). Der anspruchsvolle und wertvolle Pflegeberuf mit seiner besonderen Haltung ist sich seiner Verantwortung und seiner Bestimmung bewusst, dass er auch in jeder Krise für jeden Pflegebedürftigen parat steht.
Die zuständige Pflegekraft ist permanent Ansprechpartner für die Gesundheitsversorgung des jeweiligen pflegebedürftigen Menschen. Kein anderer Beruf ist in solch umfassendem Maße auf die Gesundheit der Menschen ausgerichtet wie die Pflege, die sich in ihrer Berufsausübung ausschließlich und vollumfänglich mit der jeweiligen komplexen Situation kranker und pflegebedürftiger Menschen sowie deren ebenso komplexer Versorgung beschäftigt. Gesundheit stellt als Zentralwert das Hauptziel der Pflege dar (vgl. Lademann, 2018; Cassier-Woidasky, 2007).
Darüber hinaus hat sich durch die Coronapandemie Gesundheit als der Zentralwert unserer gesamten Gesellschaft herauskristallisiert. Während es eine Vielzahl von Krankheiten gibt, gibt es nur eine Gesundheit (Schroeter & Rosenthal, 2005, S. 14). Gesundheit ist ein absoluter Wert. Das Bewusstsein für Gesundheit ist durch die Pandemie gestiegen. Erst dadurch wurde auch die Pflege deutlich mehr in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit gerückt. Gesundheit wird zum zentralen Ziel der politischen Anstrengungen, weil nur durch den Erhalt der Gesundheit die Existenz der Menschen und damit die Existenz der Gesellschaft gesichert werden kann. Gesundheit ist das höchste Gut. Dieses muss geschützt werden.
Um die Gesundheit der Bevölkerung nicht weiter zu gefährden, wird sogar die Wirtschaft zurückgefahren. In wiederholten Lockdowns, die über mehrere Wochen anhalten, treten die Mitarbeitenden von Industriebetrieben Kurzarbeit an, die Mitarbeitenden von Verwaltungen begeben sich ins Home-Office, große Kaufhäuser und viele Gewerbebetriebe schließen vorübergehend. Auch das öffentliche Leben wird begrenzt, Kunst- und Kulturveranstaltungen werden ausgesetzt, Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten sowie Vereine schließen weitestgehend, damit die Verbreitung der Krankheitserreger verhindert wird. Private Feiern mit vielen Personen werden verboten. Alle gesellschaftlichen Aktivitäten werden auf ein Minimum reduziert in der Hoffnung, dass dadurch die Gesundheitsgefährdung der Menschen eingedämmt werden kann.
Gleichzeitig geht die Politik durch das Zurückfahren des gesellschaftlichen Lebens große Risiken ein, weil die Menschen als Gemeinschaftswesen zwingend auf Kontakte angewiesen sind. Vor allem für Kinder und Jugendliche, die dann keine Gleichaltrigen treffen dürfen, aber eben auch für Kranke, Alte und Schwache unserer Gesellschaft bedeutet Kontaktverbot die Gefahr von Entwicklungsstörungen, von Vereinsamung mit Folgeschäden und von Langzeitschäden durch Vernachlässigung. All das bedroht ihre menschliche Existenz. Diese Schäden sind sehr viel gravierender als materielle Verluste, die durch die Krise verursacht werden. Materielle Verluste können sehr viel leichter aufgefangen oder ausgeglichen werden als gesundheitliche Schäden, die als Folge der sozialen Kontaktbeschränkungen bestehen bleiben.
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